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© ddp

Interview: „China ist ein gigantisches Experiment“

Altbundeskanzler Helmut Schmidt über Konfuzius, Kommunismus und die Kulturtraditionen eines kaum gekannten Landes.

Herr Schmidt, was fasziniert Sie an China?

Die chinesische Hochkultur ist zwischen 4000 und 5000 Jahre alt, und das Besondere an ihr ist: Sie lebt immer noch, obwohl sie uralt ist. Warum ist das so? Das ist der Gegenstand meiner Neugierde. Außerdem ist das heutige China so wahnsinnig interessant, weil es sich um ein gigantisches Experiment handelt. Solange Mao lebte, hat er eine Reihe waghalsiger Experimente durchgeführt und dabei schwere Fehler begangen. Er starb 1976, und wenige Jahre darauf gelangte mit Deng Xiaoping jemand an die Spitze, der ein neues Experiment mit bisher glänzendem Erfolg wagte. Bis auf ein paar ostasiatische Ausnahmen ist der so nachhaltige, nun schon seit einem Vierteljahrhundert anhaltende ökonomische Aufschwung einzigartig auf der Welt. Herauszufinden, wieso den Chinesen dieses Wunder gelingt, ist ungeheuer spannend.

Haben Sie eine Antwort?

Wenn ich eine hätte, so hätte ich mich wohl nicht so lange mit China befasst. Sicher ist, dass das ohne den vorausgegangenen, anderthalb Jahrtausende alten Konfuzianismus nicht so erfolgreich funktionieren würde. Das weiß niemand in Europa, und das weiß auch niemand in Amerika. Dort weiß man auch nichts von der bis ans Ende des europäischen Mittelalters dauernden technologischen Überlegenheit der Chinesen gegenüber den Europäern. Sie hatten längst das Schießpulver, sie hatten Bücher, gedruckt mit beweglichen Lettern, lange vor Gutenberg. Sie verfügten über den Magnetkompass, sie besaßen Kanonen und fuhren Segelschiffe, die zwanzig Mal so groß waren wie die Schiffe von Kolumbus. Die Europäer verstehen nicht, dass die jetzigen chinesischen Aufschwünge ohne den historischen Hintergrund und ohne das kulturelle Erbe kaum vorstellbar wären.

Der Konfuzianismus war allerdings unter Mao verboten.

Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Nach meiner Erinnerung spielt sie im Jahre 1984. Ich unterhalte mich in Peking privat und unter vier Augen mit Deng Xiaoping, der damals kein großes Staatsamt mehr bekleidet, gleichwohl aber der unangefochtene politische Führer ist. Halb im Ernst sage ich zu ihm: „Eigentlich habt ihr euch doch einen ganz falschen Namen gegeben. Ihr nennt euch Kommunistische Partei, dabei müsstet ihr Konfuzianische Partei heißen.“ Einen Augenblick stutzt er, dann sagt er: „So what!“ Auf Deutsch „Was hast du dagegen!“ Eigentlich bezog sich das nicht auf die gesamte Partei, sondern auf Deng. Ich sagte ihm, er sei weit weniger Kommunist als Konfuzianer. Das war ein ganz kluger Kerl.

Sie begegneten ihm bei Ihrem ersten und einzigen Besuch bei Mao. Hatten Sie, obwohl Sie gegen sein System waren, auch Sympathien für Mao?

Ich bin nicht gegen das System Maos. Ich bin Europäer. Warum soll ich gegen Mao sein? Ich war gegen die verrückten Maoisten in Deutschland, die nichts von Mao wussten, sondern nur die Bilder von den Massenbewegungen kannten. Was sie für Maoismus hielten, hatte weder etwas mit Mao noch mit seinem System zu tun.

Wie beurteilen Sie Mao aus heutiger Sicht?

Ähnlich, wie es die heutigen chinesischen Führer im Privatgespräch tun. Wenn Sie jemanden finden, der offen redet, so räumt er ein: „Mao hat große Fehler begangen, aber 70 Prozent waren richtig.“ Bei meiner Einschätzung komme ich nicht auf 70 Prozent, sondern auf sehr viel weniger. Aber einiges war richtig. Zum Beispiel hat er entgegen der kulturellen Tradition in China die Frauen befreit. Die zweite große Leistung ist die Wiederbegründung des chinesischen Staates, der 1945 völlig am Boden war. Wer einigermaßen gerecht sein will, muss diese Errungenschaften anerkennen. Daneben stehen schlimme Fehler und schlimme Sünden. Aber Sie dürfen auch nicht den Fehler begehen, die heutigen Führer Chinas mit Maoisten zu verwechseln. Damit haben sie nicht viel am Hut.

Können Sie sich an Ihre „Erstlingsgefühle“ in China erinnern, daran, was Sie bei Ihrer ersten Reise sahen, hörten und rochen?

Nicht Gefühle, sondern Neugierde. Ich begriff relativ früh in den sechziger Jahren, dass China eines Tages wieder zur Weltmacht aufsteigen würde, die es ja schon einmal war. Deswegen war ich schon als Fraktionsvorsitzender bei den Sozis neugierig, was sich da tat und entwickelte. Als ich Ende 1969 Verteidigungsminister wurde, gewann ich noch mehr Klarheit darüber, dass China in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen würde. Dennoch unterhielten wir immer noch keine diplomatischen Beziehungen. Weil mich zutiefst interessierte, was dort geschah, verordnete ich mir eine Dienstreise, die mich rund um China führte. Zurück in Deutschland sagte ich in einem Privatgespräch zu Bundeskanzler Willy Brandt: „Wir müssen diplomatische Beziehungen aufnehmen. Ich bin mir ganz sicher, China wird eine Weltmacht.“ Das hat er dann auch gemacht, sieben Jahre vor den Amerikanern.

Woran machten Sie fest, dass China das Potenzial zur Großmacht hat?

Es gab keine Beweise. Es war wohl die Intuition eines geschichtsbewussten und geschichtserfahrenen Mannes.

1989 ereignete sich das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Das muss Ihr Chinabild erschüttert haben.

Diese Krise hat viele hunderte Tote gekostet. Jedoch ist das ein Ereignis, dass der Westen nicht einmal im Ansatz versteht. In China ist die Wahrung des eigenen Gesichtes von ganz zentraler Bedeutung. Die Demonstrationen der Studenten hatten von Woche zu Woche angedauert. Und dann musste der Chef der Sowjetunion, der zum ersten Mal seit dem Bruch zwischen Chruschtschow und Mao auf Besuch nach China kam, wegen der Demonstrationen die Halle des Volkes durch die Hintertür betreten. Das war für die chinesische Regierung unerträglich. Zuvor hatten sie wochenlang die Demonstrationen ertragen. Aber dieser extreme Gesichtsverlust war für sie nicht hinnehmbar. Hinzu kam, dass einige wildgewordene Studenten die aufgefahrenen Soldaten tätlich angegriffen hatten, und die hatten, weil sie Soldaten waren, zurückgeschossen. Wenn es keine Soldaten, sondern Polizeibeamte gewesen wären, hätten sie nicht gleich geschossen, sondern mit Stöcken gedroht. Es gab aber keine Polizei. So gibt es viele Faktoren, die in den westlichen Medien weder richtig dargestellt noch von ihnen verstanden wurden.

Spielten Ihre eigenen Erfahrungen mit der deutschen Studentenrevolte eine Rolle bei der Bewertung der Ereignisse in China?

Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich hat ja die 68er-Studentenbewegung durchaus zu einer Reihe von Gewalttaten geführt. Diese im Westen mit staatlicher Gewalt gebrochene Gewaltbereitschaft darf nicht unterschlagen werden, wenn man über die Tragödie in China redet. Im Westen endete das zwar nicht mit 800 oder 900 Toten wie in Peking. Nun weiß ich nicht, wie viele Tote es wirklich waren. Die Zahlen sind in der westlichen Presse übertrieben worden. Die Botschafter, die ich 1990 in Peking darauf ansprach, haben alle nur geschätzt.

Sie werfen den Westmedien tendenziöse Berichterstattung über China vor.

Dieser vor allem von amerikanischen Medien ausgehenden Rezeption liegt eine tief sitzende doppelte Abneigung zugrunde. Einmal gegen kommunistische Regime und außerdem gegen ein Land wie China, das als unheimlich empfunden wird.

Haben Sie je Chinesisch gelernt?

Ich war nicht so verrückt, damit anzufangen, weil ich wusste, dass ich am Ende meines Lebens damit immer noch nicht fertig sein würde. Das kann man nicht nebenbei lernen.

Trotzdem gelingt es Ihnen, Kontakt zu finden, auch zu einfachen Menschen. Ist das schwierig?

Das war zu Maos Zeiten schwieriger, weil man Angst hatte. Die ist jetzt weitgehend verschwunden. Aber es gibt immer noch Themen, über die manch einer nicht gerne redet. Dazu gehören die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Es gibt auch innerhalb der Kommunistischen Partei, sogar in der Führungsschicht einige, die darüber lieber nicht reden möchten.

Gehen Sie davon aus, dass China sich so demokratisiert, wie wir es uns vorstellen?

Es spricht nicht viel dafür, dass die chinesische Entwicklung nach amerikanischem oder westeuropäischem Muster verläuft. Warum sollte sie auch? So, wie es in Rom anders war als in Athen und dort wiederum anders als in Sparta, sind die Verhältnisse in Peking ebenfalls grundverschieden von denen in Washington, Berlin, London, Paris oder Rom. Man muss schon Amerikaner sein, um sich einzubilden, alles müsste nach amerikanischem Muster vonstatten gehen.

Woran liegt es, dass Bush senior so anders mit China umging als heute Bush junior?

Bushs Vater ist zehnmal klüger als sein Sohn. So etwas kommt vor. Bush junior hat die Bühne der Weltpolitik in einem Augenblick betreten, da seine Kenntnisse von der Welt beinahe gleich null waren.

Bush befürchtet, dass China eine Politik der Expansion betreiben könnte.

Die Chinesen haben das bis auf zwei kleine Ausnahmen nie getan. Die eine liegt ein paar Jahrhunderte zurück und heißt Tibet, die andere ist Ostturkistan.

China selbst war dagegen durchaus Gegenstand fremder Eroberungen.

Das ist richtig. Die erste Tragödie war der japanisch-chinesische Krieg, die zweite die Besatzungszeit unter der Herrschaft der bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs böse wütenden Japaner. In der Zwischenzeit hatten die Europäer entlang der chinesischen Küste sogenannte Konzessionen, in Wirklichkeit Kolonien aufgemacht. Das heißt: Im 19.Jahrhundert ist China weltpolitisch im steilen Niedergang begriffen. Wir sprachen vorhin von Maos Leistungen. Es ist ihm gelungen, den Staat China wieder zu errichten. Wäre ich ein Chinese, so würde auch ich ihn dafür bewundern. Ich bin kein Chinese. Aber dass die Chinesen imperialistisch waren, das kann man weiß Gott nicht behaupten.

Wann waren Sie zuletzt in China?

2005. Ich war in den Jahren, nachdem ich keine Regierungsämter mehr innehatte, dort mit einer gewissen Regelmäßigkeit alle zwei Jahre einmal, also insgesamt zwischen zwölf und fünfzehn Mal.

Begegneten Sie auch Oppositionellen?

Es war immer meine Übung, auch den Dialog mit den im Westen sogenannten oppositionellen Intellektuellen zu suchen. Das habe ich regelmäßig getan.

Was erfuhren Sie in Ihren Gesprächen?

Das für mich Interessanteste war, dass viele der sogenannten Intellektuellen, fast alle mit Universitätsstudium, innerlich davon überzeugt sind, dass China eine Großmacht sein muss. Sie erwarten Respekt von uns anderen. Darin sind sich Kommunisten und Nichtkommunisten einig. Auf Befragen nach Chinas Zukunft äußern sie, Demokratie sei ihnen nicht so wichtig wie eine Renaissance der konfuzianischen Tradition. Wobei es mir scheint, als hätten die heutigen Professoren, Hochschulrektoren und Schriftsteller keine klare Vorstellung vom Konfuzianismus. Ich halte es für möglich, dass manche meiner Gesprächspartner eine geringere Kenntnis von der konfuzianischen Lehre haben als beispielweise ich, und meine Kenntnisse sind schon unzureichend. Dass sie dieses kulturelle Erbe festhalten möchten, ist aber deutlich zu spüren. Wenn sie denn möglich wäre, so wäre ihnen eine Ehe zwischen Konfuzianismus und Demokratie am liebsten. Aber die von uns so gepriesene Demokratie ist in Ihren Augen nicht so wichtig wie das materielle Wohlergehen von dreizehnhundert Millionen Chinesen. Das ist die allgemeine Meinung.

Wie hat sich – rein oberflächlich – das Erscheinungsbild Chinas im Laufe Ihrer Reisen gewandelt?

Der Kontrast zwischen der damaligen und der heutigen Kleidung der Menschen ist unbeschreiblich groß. Heute ist die Jugend genauso angezogen wie die Jungen und Mädchen auf den Straßen von Chicago, Duisburg oder Paris. Bunt. Da besteht kein Unterschied. Natürlich finden Sie auch in China alle Moden. Fast alle 17-jährigen Mädchen laufen in Jeans herum. Jeder sieht anders als die anderen aus. Früher waren alle gleich gekleidet, wie Sträflinge ohne Streifen.

Werden Sie wieder nach China reisen?

Wohl kaum. Ich bedaure es, aber ich kann es nicht mehr.

Interview: Heinz-Norbert Jocks.

Helmut Schmidt, geboren 1918 in Hamburg, war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler der BRD. Seit seinem Ausscheiden aus dem Bundestag ist Schmidt Mitherausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“. Schmidt begann bereits in den sechziger Jahren, sich intensiv mit China zu beschäftigen. In seiner Amtszeit als Verteidigungsminister bereiste er die Volksrepublik 1969 zum ersten Mal. Bei späteren Reisen lernte er unter anderem Mao und Deng Xiaoping kennen. Im Econ Verlag erschien 2006 das Buch "Nachbar China", das Gespräche zwischen Schmidt und Frank Sieren, dem Peking-Korrespondenten der „Wirtschaftswoche“, dokumentiert.

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