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Interview: „Europa ist überfordert“: Klaus-Michael Bogdal im Gespräch

Klaus-Michael Bogdal erhält den Preis zur Europäischen Verständigung der Leipziger Buchmesse. Im Interview spricht er über die aktuelle Situation der Sinti und Roma – und sein Buch „Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung“.

Herr Bogdal, die Verleihung des Europäischen Verständigungspreises für Ihr Buch „Europa erfindet die Zigeuner“ fällt in eine Zeit, in der viel von der Armutseinwanderung von Roma aus Südosteuropa die Rede ist. Die Kommunen fühlen sich mit deren Zuwanderung überfordert, und Innenminister Friedrich will den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zum Schengen-Abkommen verhindern. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?

Es geht dabei ja eigentlich primär um den Beitritt von Rumänien und Bulgarien in die EU und die Öffnung des Arbeitsmarkts im Jahr 2014. Aus diesen Ländern kommen auch viele sehr qualifizierte Arbeitskräfte. Geredet wird bloß immer nur über die Roma, da werden ungerechtfertigterweise Ängste geschürt. Aber ich glaube, die Lage wird tatsächlich noch eskalieren. Die Situation der Sinti und Roma – immerhin über zehn Millionen Menschen in Europa – wird neben der Finanz- und Wirtschaftskrise eines der bestimmenden Themen werden. Und Europa wirkt da schon jetzt überfordert.

Das klingt nicht gerade optimistisch.
Sie müssen bedenken, dass wir uns ganz offiziell im europäischen Jahrzehnt der Roma-Inklusion befinden – das ist ein Projekt, das von der EU mit Milliarden unterstützt wurde, seit 2005 existiert und 2015 endet. Das meiste Geld ist in Ländern wie Rumänien und Bulgarien versickert, bei Roma-Bossen und einheimischen Politikern, da ist wenig passiert. Vereinzelte NGOs mit akademisch gebildeten Roma haben mehr auf die Beine gestellt als die EU mit ihren Milliarden.

Sie sehen die Probleme auch in den Herkunftsländern?
Es rächt sich jetzt, wie die europäische Erweiterung vorangetrieben wurde, wie von Westeuropa aus den osteuropäischen Ländern beigebracht wurde, knallhart kapitalistisch zu werden. Dabei wurden unter anderem viele soziale Netzwerke zerstört. Das hat die Armut und die sozialen Probleme in Ländern wie Rumänien, Bulgarien, Mazedonien oder Serbien nur noch größer werden lassen. Die Roma stellen in diesen Ländern große Bevölkerungsanteile. Nur finden wir dort inzwischen fast überall Apartheidgesellschaften. Vor 20 Jahren war das noch nicht so. Serbien hatte zum Beispiel unter Tito, also im vereinigten Jugoslawien, unter den Romvölkern den höchsten Anteil von Hochschulabsolventen.

Dass die Romvölker ausgegrenzt werden, ist kein neues Phänomen. In Ihrem Buch erzählen Sie anhand von vielen literarischen Beispielen, wie sie seit ihrem Auftauchen vor 600 Jahren immer wieder reflexartig als Gefahr wahrgenommen werden – und wie sie aufgrund ihrer Schriftlosigkeit gewissermaßen als ein Gegenüber der europäischen Völker erfunden werden. Was hat Sie zur Beschäftigung mit den Romvölkern veranlasst?
Ich hatte mich zwar damals, das war vor über 20 Jahren, mit Fremdheitsforschung beschäftigt, da war ich noch in Freiburg. Aber über diese Minderheit wusste ich noch nichts. Ich bin während der Pogrome in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda auf sie gestoßen. Kurz danach gab es ein „Stern“-Interview mit einer jungen, an den Ausschreitungen beteiligten Ostdeutschen. Die sagte: „Wären Zigeuner verbrannt, hätte es mich nicht gestört. Vietnamesen schon, aber Sinti und Roma, egal.“ An diesem Satz bin ich hängen geblieben und habe gedacht: Vietnamesen kamen nie gut weg in der DDR, andere Ausländer auch nicht – aber warum macht dieses Mädchen noch diese Nuancierung, die es ihr erlaubt, alle Regeln außer Kraft zu setzen?

Und dann haben Sie losgelegt?
Das Thema hat mich nicht mehr losgelassen. Wobei ich im Lauf der Jahre herausfand – das war eine von zwei sehr wichtigen Erkenntnissen –, dass der Zigeunerhass nichts mit Antisemitismus zu tun hat, dass er etwas ganz Eigenes ist.

Das Berliner Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma sorgt für Aufmerksamkeit

Wie unterscheiden sich Antisemitismus und Antiziganismus?
Das Judentum gehört zu den Wurzeln der europäischen Zivilisation, es ist mit dem Christentum untrennbar verbunden. Es hat sich vielfältig selbst definiert, nicht zuletzt durch seine gelehrte Schriftkultur. Die Romvölker dagegen gelten von Anbeginn als Fremde unsicherer Herkunft, als Erscheinung der Wälder und Steppen. Ihre Traditionen und Kultur werden mündlich weitergegeben, nicht schriftlich. Juden wurden zum Schweigen gebracht, ‚Zigeunern’ hörte man nicht einmal zu. Anders gesagt: Die Juden sind das Andere, das man niemals sein kann, die ,Zigeuner’ stellen das dar, was man nie sein möchte – das man aber stets werden kann, wenn man von der sozialen Leiter herunterfällt. Das war im 18. und 19. Jahrhundert nicht anders als heute.

Die Nazis machten bei der Vernichtung beider Gruppen keine großen Unterschiede.
Ja, das stimmt. Der Holocaust bedeutete auch für die Romvölker das Überschreiten einer Grenze, das war ein Zivilisationsbruch. Seitdem gibt es eine Erinnerungsliteratur der Sinti und Roma, eigene schriftliche Zeugnisse. Es wuchs das Bedürfnis, auf diese Weise das Trauma der Vernichtung, das erlittene Grauen aufzuarbeiten. Trotzdem sind viele Sinti und Roma weiterhin vorsichtig. Es gibt zum Beispiel große Ängste vor Archiven. Die Vorstellung, dass irgendwo Akten über einen liegen und einen tödlichen Zugriff ermöglichen wie in der Nazizeit, ist immer noch vorhanden. Sinti und Roma sind in dieser Angelegenheit höchst misstrauisch. Denn eine höhere Überlebenschance hatte derjenige, der nicht in den Akten als ‚Zigeuner’ auffindbar war. Wer garantiert ihnen, dass es nicht wieder so sein könnte?

Die Anerkennung, dass die Vernichtung der Sinti und Roma ein Völkermord war, hat hierzulande lange gedauert. Wie beurteilen Sie das 2012 eingeweihte Denkmal für die Sinti und Roma in Berlin?
Ja, die sich in die Länge ziehende Wiedergutmachung an Sinti und Roma ist ein beschämendes Kapitel unserer Nachkriegsgesellschaft. Sie galten als Arbeitsscheue und Asoziale, nicht als rassistisch Verfolgte. Das Denkmal ist aus zwei Gründen so wichtig: Sie werden dadurch als Opfer anerkannt – und man hat es nicht Personen zweifelhaften Rufs, sondern integren Bürgern errichtet und in Anwesenheit der höchsten Repräsentanten unseres Landes übergeben. Das Denkmal ist ein wichtiger Ort, direkt gegenüber dem Reichstag. Schon jetzt suchen es viele Sinti und Roma in Gruppen oder im Familienverband auf, als Ort des Gedenkens und der Trauer, so mein Eindruck.

Sie haben auch von einer zweiten wichtigen Erkenntnis im Verlauf an der Arbeit für das Buch gesprochen. Welche war das?
Dass die Erfindung der Zigeuner eine gesamteuropäische Sache und nicht auf bestimmte Staaten beschränkt war. Überraschend dabei war die Einheitlichkeit der Bilder, die die europäische Kultur über die Zigeuner hervorgebracht haben, ob in Finnland, Russland oder Italien: der verfestigte Eindruck eines schriftlosen, geschichtslosen, kulturlosen, kreatürlichen Volks. Und das in einer Zeit, in der der Austausch der europäischen Völker noch sehr begrenzt war.

Günter Grass wird von Bogdal auch kritisiert

Die europäische Literatur, das legen Sie in Ihrem Buch detailliert dar, hat sich dabei nicht mit Ruhm bekleckert, auch nach dem Holocaust nicht. Selbst Günter Grass kommt nicht gut weg, trotz seines Engagements für die Sinti und Roma.
In Grass’ „Hundejahre“ werden die Roma wie in vielen anderen Werken der Nachkriegsliteratur halt auch als „Waldzigeuner“ dargestellt, verortet in einem Raum zwischen Zivilisation und Natur. Aber auch Luise Rinser, Wolf-Dietrich Schnurre oder Günter Bruno Fuchs bezeichne ich als selbst ernannte Stellvertreter, als sie die Stimme der Romvölker zu ergreifen versuchten. Nach dem Holocaust haben sich viele Schriftsteller die Deutungshoheit angeeignet. Sie, die dem Tätervolk angehören, modellieren das Geschehene für die Romvölker zurecht. Während der Gebrauch von antisemitischen Bildern und Floskeln nach 1945 in der Öffentlichkeit vermieden wurde, fand hinsichtlich der Romvölker keinerlei Innehalten oder Nachdenken statt.

Aber ist die Tatsache der Beschäftigung mit ihnen nicht allein schon von Wert?
Allenfalls von geringem. Denn die Schriftsteller sind zwar willens, sich mit der Gruppe ernsthaft auseinanderzusetzen. Sie interessieren sich aber nicht für deren Lebensalltag, versuchen nicht, mit den Betroffenen in einen Dialog zu treten, sondern bedienen überlieferte Klischees.

Obwohl es auch schwierig ist, diese Lebenswelt zu erkunden. Vielen Roma geht es heute durchaus bewusst um Abgrenzung, so wie es die Sängerin Dotschy Reinhardt formuliert: „Wir haben nichts als unsere Kultur und unsere Sprache, die uns zusammenhält, auf die wir uns berufen und mit der wir uns abgrenzen können.“
Für Reinhardt ist diese ethnische Differenzierung und Abgrenzung wichtig, sie lebt als Musikerin schließlich davon. Tatsächlich ist das aber der Weg, den viele Sinti und Roma durchlaufen müssen: zwischen Integration auf der einen Seite und Identitätsbewahrung auf der anderen. Dazu gehört natürlich auch, eine eigene Schriftkultur nicht nur als Bedrohung zu begreifen, sondern als Chance.

Sie wehren sich dagegen, nun immer den Mahner und Warner geben zu müssen. Trotzdem noch einmal die Frage: Beurteilen Sie die Zukunft der zehn Millionen Roma in Europa positiv oder negativ?
Von Vorteil ist, dass die Romvölker nie, wie nach dem Ende des Kalten Krieges in Osteuropa so häufig geschehen, den Anspruch auf einen eigenen Staat erheben. Wenn man das Problem ihrer sozialen Verelendung in den Griff bekommt und sie zugleich ihre Identität bewahren können, darf man optimistisch sein. Im Übrigen: Ich stehe zwar viel in Kontakt mit dem Zentralrat der Sinti und Roma und den verschiedenen Landesverbänden, und vermutlich kann ich durch meine Forschungen Verbindungen zwischen der Vergangenheit und Gegenwart der Romvölker und ihrem Ansehen präziser herstellen – aber ich bin Literaturwissenschaftler, kein Politiker.

Das heißt, Sie werden sich als Autor künftig nicht mehr mit den Roma beschäftigen?
Nein. Ich werde mich immer einmischen und mein Wissen zur Verfügung stellen. Trotzdem: Als Nächstes schreibe ich ein Buch über Einsamkeit. Ich will vor dem Hintergrund des Studiums literarischer Texte über Figuren des Einsamen in der europäischen Tradition schreiben, angefangen mit dem Eremiten bis hin zum Dementen.

Das Gespräch führte Gerrit Bartels.

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