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© Villa Massimo

Interview: Meine Zeit im Paradies

Der Schriftsteller Ingo Schulze über das Leben in der Villa Massimo, italienische Zustände – und das Gastspiel in Berlin.

Herr Schulze, Sie waren bis Januar Gast der Villa Massimo, der Deutschen Akademie in Rom. Sie haben mit Ihrer Frau und Ihren beiden kleinen Töchtern nun fast ein Jahr im selben Atelier wie einst Rolf Dieter Brinkmann gelebt. Er beschrieb die Zeit dort in seinem legendären Buch „Rom. Blicke“ als Albtraum.

Es lässt sich wohl kein größerer Gegensatz denken. Brinkmann war dort vor 35 Jahren, allein, ein anderer Mensch, unter anderen Umständen. Nein, die Villa Massimo ist das Königsstipendium!

Einigermaßen neurotisch haben dort aber schon etliche Künstler, vor allem Schriftsteller reagiert.

Neurosen kann man auch im Paradies entwickeln. Meines Wissens bewirbt sich jeder freiwillig um das Stipendium, und niemand wird gezwungen, ein Jahr in einem Haus mit großem Park in Rom zu leben und dafür noch bezahlt zu werden.

Normalerweise mit 2500 Euro pro Monat als Stipendium. Also ein römischer Traum?

Natürlich ist es ein Traum, über den zu sprechen auch schnell frivol klingen kann. Wenn der Traum dann plötzlich wahr wird, geschieht das ja nie eins zu eins. Von manchem wird man freudig überrascht, anderes nivelliert der Alltag. Die Mails, die ich in Rom bekam, hätte ich auch nach Berlin bekommen, man nimmt ja sein altes Leben mit.

Was hat denn Ihre Erwartungen übertroffen?

In mancher Hinsicht das Miteinander der Stipendiaten, trotz unserer Unterschiedlichkeit. Dass Künstler immer nur Einzelgänger seien, ist ja auch ein eher romantisches Klischee. Die meisten waren sehr neugierig, sowohl was die Mitstipendiaten betrifft als auch auf Rom. Wir hatten wunderbare Ausflüge, also Exkursionen, nach Ostia, durch Rom, zwei Tage in Pompeji und Herculaneum, wo uns ein Mitarbeiter des Deutschen Archäologischen Instituts Dinge gezeigt hat, die man sonst vielleicht nicht sieht. Die Villa Massimo leistet sich stundenweise zudem Shara Wasserman, eine Kunsthistorikerin, die uns hier und da eingeschleust hat, sowohl in Cinecitta als auch in die private Villa Albani, wir hatten regelmäßige Erkundungstouren. Das waren alles Anregungen, selbst weiterzumachen, weiterzusuchen.

Auch Ruinen können durch einen Spurenleser geisterhaft belebt werden. Empfinden Sie sich als Schriftsteller, der ja meist in der Vergangenheitsform erfindet, selber als Ruinenbaumeister?

Ruinenbaumeister würde ich nicht sagen. Aber in diesem Jahr habe ich noch einmal viel umfassender begriffen, wie sehr Kunst, Religion, überhaupt Kultur immer ein Palimpsest ist – klingt das zu banal?

Nein, wieso.

Kultur ist wirklich wie ein Text, der aus immer neu überschriebenen Schichten, Bauschichten, Menschengeschichten entsteht und sich mit uns fortschreibt. Das kann man in Rom in kaum zu überbietender Weise erfahren. Deshalb gibt es dort auch so viele ausländische Akademien mit ihren Stipendiaten. Aber im Unterschied etwa zur Amerikanischen oder zur Französischen Akademie hat die Villa Massimo den Vorzug, sehr viel unabhängiger sowohl vom Staat als auch von privaten Geldgebern zu sein. Man hat praktisch keine Verpflichtung, man muss sich nicht mal bedanken.

Haben Sie ein neues Buch geschrieben?

Nein. Letztes Frühjahr war ja gerade erst ein Buch von mir erschienen.

Nicht mal ein „römisches Tagebuch“?

Es gibt ein paar Skizzen, drei, vier Geschichten, vielleicht wird da ja noch mehr. Ich habe auch ein Manuskript begonnen, da muss ich aber erst noch sehen, was da dran ist. Von Rom aus ist der Süden nah. Wir waren in Sizilien, in Apulien, sehr viel in Rom natürlich, dazu die Führungen, Feste, Ausstellungen, Ausflüge. In Neapel, wo die Villa Massimo mit der Orientale, der traditionsreichen Uni, und einer Verlagsbuchhandlung kooperiert, die bereits zwei schöne deutsch-italienische Bücher der ehemaligen Stipendiaten Feridun Zaimoglu und Terezia Mora herausgebracht hat, haben der Lyriker Ulf Stolterfoht und ich zusammen gelesen. Und mein Roman „Neues Leben“ ist in der italienischen Übersetzung bei Feltrinelli erschienen; ich fuhr mit dem Buch kreuz und quer durch Italien. Die Feltrinellis haben in der Villa die Premierenfeier veranstaltet. Ich hatte schon das Gefühl, dass das Buch angekommen ist.

Für „Vite Nuove“ haben Sie in Italien soeben auch den Premio Grinzane Cavour erhalten. Früher hieß es, Rom sei als lebendes Museum kaum an den gegenwärtigen Künsten interessiert, Massimo-Stipendiaten hatten sich über mangelnde Aufmerksamkeit beklagt.

Ich glaube, Italiener interessieren sich inzwischen mehr für die gegenwärtige deutsche Kultur als umgekehrt.

Im Ernst? Die Deutschen interessieren sich doch notorisch für italienische Kultur und Lebensart, während ein Italiener wie der Starkomiker Beppo Grillo, so schreibt er in der „Zeit“, mit uns vor allem die Politiker tauschen würde.

Das Interesse geht über die Politik hinaus. Ein Zauberwort heißt zum Beispiel „Berlin“. Ach, Sie kommen aus Berlin? Das ist wie früher New York der Ort, wo viele junge Italiener hin wollen. Und im Zentrum von Rom oder Mailand kann sich heute ein normaler Schriftsteller oder Künstler kaum noch eine Wohnung und gar ein Atelier leisten. Anders als in Berlin. „Berlino“ war in der Vergangenheit eine politische Drohung, jetzt klingt es wie eine Verheißung.

Haben Sie denn viel von der gegenwärtigen italienischen Krise mitbekommen?

Wir haben kaum ferngesehen. Aber die Renaissance von Berlusconi war schon spürbar. Mitte Dezember gab es einen Streik der Transportunternehmen, da trockneten die Supermärkte aus. Wir mussten zu der Zeit nach Neapel, was für manche abenteuerlich wurde. Dem italienischen Alltag entgeht man nicht. Es klingt so klischeehaft, aber während unserer Lesung wurden zwei- oder dreihundert Meter weiter wieder zwei Männer erschossen. Trotzdem ist Neapel für mich die verlockendste italienische Stadt. Alles ist Gegenwart. Eine wichtige Abteilung im Museum war geschlossen, weil auf dem Balkon Arbeitslose demonstrierten! Nicht mal das Museum ist museal. Vom Museum sieht man auf den Vesuv, der die Stadt noch genauso bedroht wie vor zweitausend Jahren.

Dazwischen liegen in der Hafenbucht die verrotteten Industrien, die mafiabeherrschten Vorstädte.

Ja, jeder sagt einem, was Saviano schreibt, stimmt. Ich weiß nicht, wie lange ich es als Ausländer dort tatsächlich aushalten würde. Aber dafür ist alles direkter, illusionsloser, die Leute wirken irgendwie reifer, aber auch herzlicher, man kennt sich, man ist aufeinander angewiesen, europäische Hochkultur und Dritte Welt fließen zusammen.

Sie haben das Miteinander der Stipendiaten gerühmt. Nun waren Sie beispielsweise mit Künstlern wie Carsten Nicolai und Matthias Weischer zusammen, die für ihre Werke bereits viele hunderttausend Dollar erzielen. Gab es da wirklich einen Austausch?

Warum nicht? Das ist natürlich auch eine Mentalitätssache. Jedenfalls mussten die anderen meine Bücher lesen. Wir haben uns schon ausgefragt, ich habe mir Skizzen und Bilder angeschaut, zugesehen, wie Skulpturen entstehen, Architektur. Selbst im Gespräch mit den Komponisten – davon verstehe ich leider gar nichts – merkten wir schnell, dass wir uns grundsätzlich an denselben Fragen abarbeiten. Was heißt heutig, was ist avanciert, was nur prätentiös, welche Einfachheit ist möglich oder gar notwendig, überhaupt die Frage, wie gehe ich mit dem um, was es bisher gab und, und, und. Spannungen gab es bei der Reihenhaussituation unserer Ateliers höchstens mal wegen unterschiedlicher Auffassungen über Kindererziehung! Vielleicht hat es uns gerettet, dass wir zweimal pro Woche zusammen Fußball gespielt haben.

In der Villa?

Ja. Dieser Rasen ist jetzt für ein Jahr ruiniert. Dafür haben wir einmal 7:3 gegen die Amerikanische Akademie gewonnen und einmal knapp verloren.

Sie klingen jetzt – eine Seltenheit in Deutschland – wie ein richtig glücklicher Künstler. Also gibt es nichts, was Sie in Ihrem Rom-Jahr gerne anders gehabt hätten?

Ich bin nicht der Klassensprecher. Aber mein Rat für Massimo-Stipendiaten wäre, das Zuhause so weit wie möglich zu Hause zu lassen und zu genießen, dass man elf Monate in Rom und Italien sein darf. Man versteht das Eigene dann besser. Eine Freundin gab mir vor einem Jahr mit auf den Weg, ich solle versuchen, mich in Rom zu langweilen, ich soll Zeit vergeuden, einfach nur herumstreunen. Das habe ich leider nicht geschafft.

Das Gespräch führte Peter von Becker.

Ingo Schulze, 1962 in Dresden geboren, lebt in Berlin. Sein 2005 veröffentlichter Roman Neue Leben gilt als einer der großen Nachwenderomane. Zuletzt erschien von ihm der Erzählungenband Handy, mit dem er 2007 den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Die Villa Massimo, die Deutsche Akademie Rom, wurde 1913 eingeweiht. Jährlich vergibt sie zehn Stipendien für bildende Künstler, Musiker, Architekten und Schriftsteller.

Am 20. Februar präsentiert sich die Villa Massimo im Berliner Martin-Gropius-Bau. Bundestagspräsident Norbert Lammert eröffnet den Abend, die Rede der Stipendiaten hält Ingo Schulze. Außerdem lesen Jan Wagner und  Ulf Stolterfoht. In den Ausstellungsräumen zeigen die Künstler Stefan Mauck, Aurelia Mihai, Carsten Nicolai und Matthias Weischer sowie die Architekten Rudolf Finsterwalder und Wieka Muthesius ihre Arbeiten. Die Veranstaltung beginnt um 18 Uhr mit dem Trompeter Till Brönner.

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