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Interview mit Derek Walcott: Schwarz bin ich nur anderswo

Der karibische Nobelpreisträger Derek Walcott nimmt den Tourismus in die kulturelle Pflicht. Zuletzt erschien von ihm sein Langgedicht "Der verlorene Sohn":

Mr. Walcott, Sie leben teils in Boston, teils auf Ihrer karibischen Heimatinsel St. Lucia. Woher nehmen Sie Ihr Gefühl von persönlicher Zugehörigkeit?

Ich habe ein starkes Gefühl von Identität, insofern ich weiß, dass ich ein St. Lucianer bin. Politisch habe ich keine Macht, mein Wort zählt nicht. Aber im Sinne der Menschen und der Landschaft weiß ich, wo ich hingehöre. Konflikte entstehen erst im Ausland. Wenn ich nach Amerika reise, bin ich ein Schwarzer. Ich denke zwar nicht so und will kein Schwarzer sein. Denn ich bin ein karibischer Autor, der auch zu indischen und chinesischen Autoren aus der Region in Bezug steht.

Sie schreiben auf Englisch. Steckt darin nicht schon eine Identitätsentscheidung?

Wenn ich einen Zeitungsbericht über ein Massaker oder einen Mord in Kenia lese, lese ich ihn in der Sprache meiner Sklavenhalter. Ich lese in Shakespeares Sprache über eine Situation, die gegen die Schwarzen ist. Das beschäftigt mich: Bin ich gegenüber der Sprache oder gegenüber meiner Rasse loyal? Letztendlich gegenüber der Sprache.

Die westindische Literatur kennt viele Sprachen.

Wenn die Leute von westindischer Literatur reden, dann meinen sie karibisch. Durch das Meer ist dies ein riesiges Gebiet. Die Entfernung zwischen Venezuela und den Bahamas ist immens. Deshalb sind auch alle stereotypen Vorstellungen von der Karibik falsch wie Hotels, Palmen, kleine Häuschen und Dienstpersonal. Martinique zum Beispiel ist eine französische Insel, und die Nuancen, die Rhythmen der Sprache sind eine Mischung aus Afrikanisch und Französisch. Die Leute auf Martinique haben sich auch ökonomisch von Frankreich abhängig gemacht – in der Hoffnung, so etwa gute Straßen zu bekommen. Frankreich wiederum steckt viel Geld in Martinique und Guadeloupe und entwickelt seinen Tourismus. Das nahe Barbados dagegen ist britisch, und zwar sehr britisch.

Hat ein solches Geben und Nehmen auf Dauer eine Chance?

Der Austausch klappt so lange, bis Immigranten in die angeblich vorurteilslosen Mutterländer kommen wollen. Sehen Sie sich die USA an: Sie haben nichts gegen Kubaner, weil die meisten Kubaner weiß sind. Aber sie wollen keine Haitianer, weil die schwarz sind, also schicken sie die zurück. Dies entspricht zwar nicht der amerikanischen Außenpolitik, aber der Realität. Ich glaube, Europa macht gerade etwas Ähnliches durch.

Wovon träumen Sie denn für die Karibik?

Es wäre wunderbar, aus dem Flugzeug steigen zu können und nicht durch den Zoll zu müssen. In der EU gibt es immer weniger Bürokratie. Und nur eine Währung. Damit meint man auch: nur ein Volk. Ein wunderbares Modell für die Karibik, wo jeder Felsen einen eigenen Pass und eine eigene Währung hat.

Sie bezweifeln, dass man als Tourist ein Land jemals richtig kennenlernt. Wie sonst soll man sich aber ein Bild machen?

Man kann sich die Hotels an vielen Stränden als Mauer vorstellen, hinter der erst das Wohngebiet der Einheimischen beginnt. Nach außen sieht alles nach Wohlstand aus. Aber nach innen hin ist eine Art Integrität bedroht.

Wie wollen Sie das verhindern?

Meine Antwort ist: Nutzt den Tourismus für die kulturelle Entwicklung. Man könnte fordern, dass jedes Hotel 20 Bilder von Künstlern aus St. Lucia aufhängt, sogar ein Gesetz erlassen: Die Genehmigung für den Bau eines Hotels wird erst erteilt, wenn ein Theater oder ein Kunstprojekt unterstützt wird. Luxushotels stellen keinen Kontakt mit der Insel her. Ich will niemandem verbieten, in der Karibik zu schwimmen. Ich will auch weiterhin als Tourist nach New York. Aber man muss die verantwortlichen Regierungen in die Pflicht nehmen.

Wonach sollen sie sich richten?

Nehmen Sie England und die Shakespeare-Industrie, man fährt nach London und Stratford, um ins Theater zu gehen. Oder nach Florenz, um Gemälde von Leonardo da Vinci zu sehen. Die Gefahr bei uns liegt darin, dass wir so klein sind. Wir können verkonsumiert werden.

Das Gespräch führte Barbara von Bechtolsheim.

Der karibische Nobelpreisträger Derek Walcott, 77, war Gast des Berliner Poesiefestivals. Im Hanser Verlag erschien zuletzt sein Langgedicht „Der verlorene Sohn“.

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