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Der Autor Edgar Hilsenrath in seiner Wohnung in Berlin, fotografiert am 31. Oktober 2003.

© imago/gezett

Interview mit Edgar Hilsenrath: „Ich hatte immer schöne Freundinnen“

Edgar Hilsenrath spielte sogar Volleyball mit Rita Hayworth. Außerdem verkaufte er fünf Millionen Bücher – doch in Deutschland wurde er verkannt.

Herr Hilsenrath, wir haben schon Ihr Allerliebstes entdeckt. Die Schreibmaschine, dort auf dem Tisch.

Ach, meine kleine alte Groma. Ich habe sie 1954 in New York gekauft. Von einem deutsch-jüdischen Emigranten, den ich in einem Fahrstuhl kennenlernte. 25 Dollar, sie war schon gebraucht.

Sie haben zehn Romane darauf geschrieben, unter anderen „Nacht“, „Der Nazi und der Frisör“, „Das Märchen vom letzten Gedanken“ …

… und sie funktioniert immer noch. Probieren Sie mal, sie hat einen lockeren Anschlag.

Was sollen wir denn schreiben?

Einen Liebesbrief natürlich.

Wo ist das Papier?

Im Schlafzimmer. Hinterm Bett. Suchen Sie mal. Ich bin nicht mehr so gut zu Fuß nach meinen drei Schlaganfällen. Wollen Sie auch eine rauchen?

Danke, später vielleicht. Meinten Sie dieses Papier?

Es ist Zauberpapier.

Sie scherzen.

Nein, es kommt aus Amerika. Man kann darauf tippen und Fehler mit dem Radiergummi löschen. Aber eigentlich muss ich das nie. Ich schreibe alles in einem Zug nieder, und es sitzt.

Sie haben die Maschine vermutlich wegen der deutschen Tastatur gekauft?

Das war das Wichtigste. Als ich in New York lebte, von 1951 bis 1975, da habe ich nur deutsche Bücher gelesen und auf Deutsch geschrieben. Ich fühlte mich sehr einsam. Die Maschine wurde mein bester Kumpel.

Und die deutsche Sprache zu Ihrer Gefährtin?

Zu meiner Geliebten! Schon 1938, als ich 12 Jahre alt war und vor den Nazis nach Rumänien fliehen musste, habe ich mich in sie verliebt.

Ausgerechnet als Sie aus Deutschland vertrieben wurden? Sie lebten in Halle und flüchteten mit Ihrer Mutter und Ihrem Bruder zu Verwandten in ein Schtetl in der Bukowina

Der Ort hieß Siret. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Da lebten Deutsche, Juden, Zigeuner, Rumänen und Ukrainer. Ich hatte ein Pony und bin im Schtetl herumgeritten. Die besten Familien luden mich ein, weil ich ein so gutes Deutsch sprach. Es galt als die Sprache der Bildung und der Kunst.

Es war auch die Sprache der Nazis. Als Sie in Halle zur Schule gingen, war Ihnen da bewusst, dass Sie das einzige jüdische Kind in der Klasse waren?

Ja, einmal malte unser Lehrer ein Schwein an die Tafel und behauptete, Juden essen kein Schwein, weil sie nicht ihresgleichen verspeisen. Als ich sagte, dass wir zu Hause aber Schweinefleisch essen, wurde er sauer. Und es gab einen Mitschüler, den Fritz. Ein richtiger kleiner Nazi. Auf dem Nachhauseweg musste ich mich mit ihm prügeln, und er hetzte die anderen auf mich.

Was hat er gesagt?

Itzig, Saujud und so was. Der lebt übrigens noch. Ich war vor einigen Jahren in Halle und bin zum Friseurladen gegangen, der seinem Vater gehörte. Ich habe gefragt, gibt es den Fritz noch. Ein Angestellter sagte: „Ja, der Fritz, der lebt heute in einer kleinen Stadt in der Nähe.“ Ich war enttäuscht.

Warum?

Ich hatte gehofft, dass er im Krieg umgekommen wäre. Ich wollte ihn mein Leben lang umbringen, aber ich hab’s mir dann anders überlegt.

1941 deportierten die Rumänen Sie und Ihre Familie in das jüdische Ghetto Moghilev-Podolsk. Rumänien hatte sich mit Deutschland verbündet. Von 50 000 Ghettobewohnern kamen 40 000 um.

Es gab im Ghetto keinen Gott. Ich erinnere mich an die Schreie und das Weinen der Leute, die zum Bahnhof gebracht wurden. Die Rumänen transportierten sie nach Osten. Dort stand die SS, die hat sie gleich erschossen. Das beschreibe ich in meinem Roman „Nacht“.

Sie schildern darin eine Welt ohne Erbarmen. Die Menschen im Ghetto töten für ein Stückchen Brot, sie sind froh über jeden, der stirbt, weil es einen Esser weniger gibt und einen Schlafplatz mehr.

So war es. Die Grausamkeit und die Not im Ghetto machten die Menschen zu Bestien. Es gab keine Solidarität unter den Juden, sie waren keine besseren Menschen.

In „Nacht“ überleben diejenigen, die besonders brutal und skrupellos sind. Wie haben Sie das Ghetto überstanden?

Ich arbeitete in einer Stahlfabrik. Außerdem kannte einer aus der Sireter Gruppe den rumänischen Ghettokommandanten. Er überließ uns ein Gebäude, das man heizen konnte, und wir lebten vom Schwarzhandel. Einmal wäre ich aber fast erschossen worden: Mit ein paar Jugendlichen war ich aus dem Ghetto geflüchtet. Wir wurden von rumänischen Soldaten geschnappt, und sie stellten uns vor ein Maschinengewehr. Auf Ghettoflucht stand die Todesstrafe. Dann kam ein Offizier und sagte, wir würden zurückgebracht. Er hatte wohl Angst, weil die Rote Armee schon sehr nahe war. Ein Soldat bot mir eine Zigarette an. Seit dem Tag rauche ich.

Als die Russen im März 1944 das Ghetto befreiten, gab es Ihr Schtetl nicht mehr. Nach Deutschland konnten Sie nicht zurück.

Ich lief 150 Kilometer zu Fuß nach Czernowitz, wo eine Tante von mir lebte. Eines Morgens stand ein russischer Soldat vor der Tür und sagte: Verhaftet! Die Russen brauchten Arbeiter in den Kohlegruben von Donbass. Auf der Kommandantur traf ich einen Cousin. Er fälschte meine Papiere, machte aus der sechs in meinem Geburtsjahr 1926 eine acht. Er ging zum Kommandanten und sagte: „Hier, der Junge ist erst 16. Lassen Sie ihn laufen.“ Ich wanderte dann nach Palästina aus.

Was erwarteten Sie von Israel?

Ich wollte unter Juden sein. Aber dort waren nur Israelis: Man sprach Hebräisch. Ich fühlte mich als Außenseiter mit meiner deutschen Sprache. Als das Rote Kreuz dann meine Familie in Lyon fand, bin ich 1947 nach Frankreich gegangen. Am Anfang hatte ich schwere Depressionen. Bis ich eines Abends in einer Lyoner Kneipe saß und mir Wein, Papier und einen Bleistift bringen ließ. Ich habe in zwei Stunden 30 Seiten voll geschrieben. Es war wie eine Befreiung, ich war Schriftsteller. So begann die „Nacht“. Ich zog nach New York und schrieb zwölf Jahre lang an dem Buch.

"Ganz Deutschland ist ein Holocaustmahnmal"

Im Kindergarten. Edgar Hilsenrath wuchs in Halle auf. Die Familie floh 1938 in die USA.
Im Kindergarten. Edgar Hilsenrath wuchs in Halle auf. Die Familie floh 1938 in die USA.

© imago/Gerhard Leber

Die deutschen Verlage lehnten Ihr Manuskript ab, weil sie meinten, Ihre ungerührte Beschreibung des Ghettos verhöhne die Opfer und könne den Antisemitismus fördern. Konnten Sie diese Haltung nicht verstehen?

Nein, nie. Die Deutschen wollten den Juden vorschreiben, wie sie sich zu erinnern hatten. Aber ich beschreibe alles, was ich sehe und fühle. Ich halte mich nicht an Konventionen, ich bin von Natur aus ein Tabubrecher. In Deutschland betrachteten viele die Juden nach dem Krieg ja als richtige Heilige. Ich finde, die Philosemiten sind noch schlimmer als die Antisemiten, weil sie Heuchler sind.

Sie erhielten eine Absage nach der anderen. Als der Kindler-Verlag 1964 „Nacht“ druckte, haben Sie da gedacht, das ist jetzt der Durchbruch?

Ja, Helmut Kindler war begeistert, aber seine Frau und der jüdische Cheflektor wollten das Buch verhindern. Schließlich knickte Kindler ein und ließ nur 1800 Exemplare drucken, für die auch keinerlei Werbung gemacht wurde.

Sie lebten damals in den USA. Wie wirkte der deutsche Literaturbetrieb auf Sie?

Ich hasste ihn. Die Gruppe 47 war eine Art Mafia, die alles bestimmte. Die Kritiker verstanden nichts. Fritz J. Raddatz schrieb in der „Zeit“, ich sei kein Schriftsteller. Marcel Reich-Ranicki hat mich immer ignoriert, für ihn existiere ich gar nicht. Dabei war mein zweiter Roman „Der Nazi und der Frisör“ 1971 ein internationaler Bestseller. In Deutschland lehnten über 60 Verlage das Manuskript ab. Diesmal hatten sie Angst, weil ich eine Satire über den Holocaust geschrieben hatte. Erst 1977 traute sich ein kleiner Kölner Verlag, das Buch herauszugeben. Aber ich war eigentlich mein ganzes Leben lang unbekannt.

Wie bitte? Ihre Bücher sind in 18 Sprachen übersetzt und haben sich weltweit über fünf Millionen Mal verkauft.

Der Ruhm kam viel zu spät.

Dafür sind Sie, der deutsche Jude, ein in Armenien berühmter Mann.

Dort kennt mich jedes Kind. Ich habe 1989 „Das Märchen vom letzten Gedanken“ veröffentlicht, einen Roman über den Völkermord der Türken an den Armeniern. Außer Franz Werfel und mir hat niemand darüber geschrieben. Schauen Sie mal unter den Couchtisch, da müsste eine rote Ledermappe liegen.

Eine Urkunde. Sie sind Ehrendoktor der Universität Eriwan.

Die Armenier konnten anfangs gar nicht glauben, dass ich kein Armenier bin. So genau habe ich über ihre Sitten und ihre Geschichte geschrieben. Eigentlich bin ich der beste Armenier. Ich konnte mich als Jude mit ihrem Leiden identifizieren.

„Wir hoffen immer, wäre es anders, wären wir keine Juden“, sagt eine Ihrer Romanfiguren. Haben Sie sich jemals gewünscht, kein Jude zu sein?

Ich war immer ein bewusster Jude. Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft, zusammengeschweißt durch die Erfahrung der Verfolgung. Aber ich bin Atheist. Als 14-Jähriger erlebte ich im Schtetl, wie mein Großvater jeden Morgen das Gebet sprach. Ich fand das ziemlich blöd, ich verstand ja kein Wort Hebräisch. Also beschloss ich, dass es Gott nicht gibt. Er ist eine Erfindung des Menschen.

In Ihrem neuen Buch „Berlin ... Endstation“ wird Lesche, ein gehbehinderter jüdischer Schriftsteller, von Neonazis auf offener Straße in Berlin erschlagen. Haben Sie wieder Angst?

Das liegt in der Luft, war schon immer so. Ende der 70er Jahre haben die Nazis eine Lesung von mir gesprengt. Später haben sie Hakenkreuze an meine Wohnungstür geschmiert. Hier in Friedenau. Heute hört man wieder Dinge, die vor einigen Jahren noch tabu gewesen wären. Der eine sagt: Ich mag die Juden nicht. Der andere: Die Juden sind selbst schuld am Antisemitismus. Das geht alles wieder. Ich war mal am Holocaustmahnmal, aber es hat mich nicht beeindruckt. Die Deutschen haben es für sich selbst gebaut. Ich brauche es nicht. Ganz Deutschland ist ein Holocaustmahnmal.

Dennoch entschlossen Sie sich 1975, nach Deutschland zurückzukehren, und leben seitdem in Berlin. Alfred Döblin kam auch aus dem Exil zurück, aber er ging wieder. Es sagte: „Ich bin in diesem Land überflüssig.“

Meine Familie konnte meinen Entschluss überhaupt nicht verstehen. Für sie war Deutschland das Land der Mörder. Aber ich verdrängte das. Ich hatte Sehnsucht nach der deutschen Sprache, und in Deutschland war eine neue Generation herangewachsen. Außerdem suchte ich eine Freundin. In den USA war es eine Katastrophe mit den Frauen: Für Amerikanerinnen zählen nur Geld und Erfolg. Ich hatte weder das eine noch das andere. Ich habe geschrieben, und wenn mir das Geld ausging, arbeitete ich als Kellner.

Dabei begann Ihre Überfahrt in die USA doch Erfolg versprechend: Sie lernten auf dem Dampfer eine der schönsten Frauen der Welt kennen.

Rita Hayworth, die Schauspielerin. Sie war schon ein Star und reiste in der ersten Klasse. Ich war in der Touristenklasse untergebracht. Wir lernten uns an Deck kennen und spielten Volleyball zusammen. Irgendwo habe ich ein Foto. Es zeigt Rita und mich in T-Shirts im Sonnenschein.

Es gibt viele Fotos von Ihnen mit attraktiven Frauen.

Ich hatte immer schöne Freundinnen. Ich bin sanft und höre zu.

Eine Ihrer Affären hat Sie 40 Jahre später eingeholt.

Ja, eines Tages stand ein Mann vor meiner Tür und sagte: Ich bin dein Sohn. Ich erinnerte mich, dass ich als 22-Jähriger in Lyon eine deutsche Studentin mit aufs Zimmer genommen hatte. Sie wurde schwanger und ging zu meiner Mutter, aber meine Mutter verschwieg mir das. Dann wanderte ich mit meiner Familie in die USA aus. Die Frau erzählte ihrem Sohn aber, wer sein Vater ist, und eines Tages sah er mich in einer Talkshow. Die haben ihm meine Adresse gegeben.

Wie haben Sie reagiert, als er vor der Tür stand?

Ich war misstrauisch. Da kommt jemand und sagt: Ich bin dein Sohn. Er sah mir auch gar nicht ähnlich. Aber er brachte Briefe mit, die seine Mutter an mich geschrieben hatte und die mich nie erreicht hatten. Ein Gentest bestätigte es dann. Seither haben wir regelmäßig Kontakt.

Sie haben sich erst mit 52 Jahren fest gebunden. Warum so spät?

Das kam einfach so. 1978 erhielt ich einen Brief von einer Frau aus Hamburg, die „Nacht“ gelesen hatte und mich treffen wollte. Wir haben uns am Strand verabredet und machten einen Wettlauf. Ich war natürlich schneller. Bis meine Achillessehne mit einem lauten Knall riss. Marianne hat mich nach Berlin ins Krankenhaus gefahren und schlief in meiner Wohnung. Sie ist dann einfach geblieben. Wir wohnten aber getrennt. Meine 30-Quadratmeter-Wohnung ist ja, wie Sie sehen, zu klein für zwei Personen. Vor zwei Jahren ist Marianne gestorben.

Ihre Bücher sind grotesk, die Dialoge witzig, viele Szenen sehr komisch. Haben Sie nie Angebote aus Hollywood bekommen?

Nein, aber ich habe schon einige Bücher an deutsche Produktionsfirmen verkauft, zum Beispiel „Der Nazi und der Frisör“.

Glauben Sie, dass es ein guter Film wird?

Das hoffe ich. Ich habe ja das Drehbuch geschrieben. Es ist 220 Seiten zu lang, aber einige Leute behaupten, dass es das beste Drehbuch ist, was jemals geschrieben wurde.

Und was meinen Sie?

Es stimmt.

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