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Interview: „Musik ist die Schatztruhe im Gehirn“

Der Neurologe und Schriftsteller Oliver Sacks im Gespräch mit dem Tagesspiegel über die Kunst, Töne zu verstehen und warum ein Madonna-Fan auch Bach mögen kann.

Mister Sacks, besitzen Sie einen iPod?

Noch vor drei Monaten hätte ich mit Nein geantwortet. Inzwischen bin ich jedoch zu meiner eigenen Überraschung Besitzer eines solchen Dings und muss gestehen, dass ich meinen Spaß damit habe. Zu Weihnachten erhielt ich letztes Jahr eine Gesamtedition mit Bachs Werken – 150 CDs. Die befinden sich nun alle auf diesem iPod. Allerdings höre ich sie mir hauptsächlich abends im Bett an. Ich würde nie mit Stöpseln in den Ohren herumlaufen, wie das viele Leute tun, so versunken in das, was sie da hören, dass sie im Straßenverkehr ihr Leben riskieren.

Bedeuten diese Massen verstöpselter Menschen, dass wir zu einer Nation von Musikenthusiasten geworden sind?

Wir sind eher zu einer Nation von Zombies geworden. Ich glaube nicht, dass die Zahl der Musikfreunde oder die Wertschätzung von Musik zugenommen hat. Wobei das Angebot heutzutage unglaublich ist. In einer Woche kann man mehr Musik hören als jemand im 15. Jahrhundert in seinem ganzen Leben. Es ist wie ein endloses Bankett, an dem man sich überfrisst, sofern man sich nicht mäßigt.

Wie halten Sie es mit dem Musikkonsum?

Ich mag Musik, die mit einem speziellen Anlass verbunden ist. An Ostern gehe ich gerne in eine Aufführung der Matthäus-Passion, oder ich gehe wegen eines bestimmten Dirigenten ins Konzert. Dass ich mir Bach anhöre, hängt damit zusammen, dass ich nach 62 Jahren wieder Klavierunterricht nehme und mich gerade durch Bachs Fugen und Präludien arbeite. Das iPod-Hören gehört mit zum Üben.

Ihr Buch „Der einarmige Pianist. Über Musik und Gehirn“ beginnt mit einer Passage aus Arthur C. Clarks Roman „Childhood’s End“. Darin besuchen Außerirdische ein Konzert hier auf Erden. Wie würden Sie einem Außerirdischen Musik erklären?

Man müsste wohl erklären, dass Menschen dazu fähig sind, komplexe repetitive Muster von Tönen, Geräuschen und Frequenzen sowohl zu kreieren als auch zu genießen. Aber ob die Außerirdischen das verstehen würden? Amusie existiert ja auch unter Menschen. Im Buch beschreibe ich einige Leute, die Musik nur als Lärm wahrnehmen. Ich habe selber zweimal bei Migräneanfällen erlebt, wie sich Musik in akustisches Chaos verwandelte. Interessanterweise empfinden manche Menschen ihre Amusie gar nicht als ungewöhnlich. Leser haben mir geschrieben, sie hätten erst nach der Lektüre meines Buches realisiert, dass ihnen möglicherweise etwas sehr Schönes entgeht.

Sie beschreiben auch Menschen, die aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls praktisch alle geistigen Fähigkeiten eingebüßt haben, mit Ausnahme ihres Musikverständnisses. Ist das Ich ein musikalisches?

Eine poetische Frage. In gewisser Weise geht die Vorstellung vom harmonischen Ich zurück bis auf Pythagoras und Platon. Warten Sie (...kommt mit einem Buch zurück und zitiert), im 17. Jahrhundert schrieb der Sir Thomas Browne: „Wer immer harmonisch komponiert ist, erfreut sich an Harmonien und an der Kontemplation des Ersten Komponisten … die Seele ist harmonisch und der Musik innigst zugetan.“ Sind wir musikalische Kompositionen? In der Wissenschaft sind musikalische Metaphern beliebt; ich habe ein Buch über die Musik der DNA geschrieben. Vielleicht sind das ja bloß Sprachspiele.

Sie bringen Literatur und Wissenschaft gut unter einen Hut: Die Columbia University ernannte Sie zum Professor für klinische Neurologie und Psychologie und zugleich zum ersten „Künstler“ der Fakultät. Sie sind Mitglied der Gesellschaft für Neurowissenschaften sowie des PEN
.

Als ich „The Mind of a Mnemonist“ von meinem Mentor las, dem russischen Neuropsychologen Alexander Luria, glaubte ich während der ersten 30 Seiten, es handele sich um einen Roman. Es war die detaillierteste Fallgeschichte, die ich je gelesen hatte, zugleich ist sie geprägt von Sensibilität und Einfühlungsvermögen, wie sie sonst nur in der Literatur vorkommen. Lurias Ziel besteht darin, die analytische, reduktionistische Wissenschaft mit dem zu kombinieren, was er „romantische“ Wissenschaft nennt – eine Wissenschaft, die herausfinden will, was es heißt ein Mensch, eine Kreatur auf dieser Welt zu sein. Genau das ist auch mein Bestreben.

Eine ganzheitliche Herangehensweise…

…die auch mich selbst als Untersuchungsobjekt nicht ausschließt. Zum Beispiel habe ich vor kurzem die Sehkraft in einem Auge verloren. Ich habe da dieses unangenehme Ding, ein Melanom (wedelt mit der Hand vor seinem rechten Auge herum) und nehme Gegenstände nur noch als Farben und Formen wahr, die sich auf einer Fläche überlappen. Jedenfalls…(schlägt ein Notizbuch voller handschriftlicher Eintragungen, farbiger Skizzen und eingeklebter Texte und schlägt es an einer Stelle auf, wo eine Flasche und ein großer roter Fleck gezeichnet sind)… wollte ich einem Freund Wein einschenken und habe das Glas nicht getroffen (lacht). Manchmal habe ich auch komische kleine Halluzinationen (kichert wieder und blättert zu einer Illustration). Wenn ich diese dann aufzeichne, kann ich sie aus der Distanz betrachten.

Die Beobachtung dieses „unangenehmen Dings“ bereitet Ihnen Vergnügen?

Niemand erblindet gerne oder wird gerne taub – schwerhörig bin ich nämlich auch. Aber es ist doch aufregend, solche Phänomene am eigenen Leib zu erfahren, sie zu beschreiben und zu untersuchen.

Funktioniert das Hirn eines Madonna-Fans anders als das eines Bach- oder Schönberg-Liebhabers?

Möglicherweise werden jene Teile des Hirns, die auf Rhythmus reagieren, bei einem Pop-Hörer stärker aktiviert als meine, wenn ich Bach höre. Aber die Vorliebe für die eine oder andere Musik hat immer auch mit Verständnis zu tun…

…sodass der Madonna-Fan lernen könnte, Bach oder Schönberg zu mögen?

Oder ich lernen könnte, Hindu-Musik zu mögen. Ein hinduistischer Leser schrieb mir, er fände unsere westliche Musik sehr merkwürdig, setze sich ihr aber bewusst aus und finde langsam Gefallen daran. Auch Schönbergs Musik hat ja zunächst regelrechte Krawalle ausgelöst. Und 200 Jahre davor gab es Leute, die fanden, Mozart und Beethoven komponierten keine Musik. Darf ich Ihnen etwas vorspielen?

Ja, bitte.

(Hantiert an einem altersschwachen CDSpieler herum, bis A-Cappella-Gesang erklingt, dann ein Männersolo) Das ist Woody, ein Mann, der an Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium leidet, der nicht mehr weiß, wer und wo er ist, aber immer noch seinen Chor leiten kann. Unglaublich! So hat er mir vorgesungen, als er zu mir in die Praxis kam.

Die harmonische Seele des Menschen…

Die Überlebensfähigkeit von Musik im Menschen mag daran liegen, dass am Erkennen und Komponieren von Musik viele Teile des Gehirns beteiligt sind. Selbst wenn der eine oder andere Teil beschädigt ist, funktionieren noch genügend andere. Außerdem ist bei der Musikerkennung eine bestimmte Art der Erinnerung involviert, das so genannte Verhaltensgedächtnis, das ist praktisch unzerstörbar. Musik, die uns vertraut ist, liegt wie eine Schatztruhe tief drinnen in unserem Gehirn begraben.

Was ist in Ihrer musikalischen Schatztruhe verborgen?

Vermutlich die Erinnerung an meine Brüder, wie sie auf dem Klavier Bach üben. Als Fünfjähriger wurde ich gefragt, was mir das Liebste auf der Welt sei. Ich soll gesagt haben: geräucherter Lachs und Bach.

Das Gespräch führte Sacha Verna.

Der Neurologe Oliver Sacks, geboren 1933 in London, lebt seit 1965 in New York. Einem internationalen Publikum bekannt wurde er mit Büchern wie Awakenings: Zeit des Erwachens und Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte oder Der Tag, an dem mein Bein fortging (alle als Rowohlt taschenbuch). Auf sehr persönliche Art schildert er darin die Erlebnisse von und mit seinen Patienten. Sacks’ Expeditionen ins menschliche Gehirn führten auch ins Reich der Botanik, der Fotografie und der Geologie, in die Südsee und ins norwegische Gebirge. Am Montag erscheint die deutsche Ausgabe seines neuen Buchs über das Hören von Musik. Oliver Sacks: Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008. 352 Seiten, 19, 90 €.

Das Gespräch fand in Oliver Sacks’ Büro in Greenwich Village statt. Das von Sacks erwähnte Melanom in seinem Auge soll Gegenstand seines nächsten Buches werden. In einer Sammlung von Essays über Augen und das Sehen will er darin auch von seinem eigenen Fall berichten.

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