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Krankeshaus

© Berlinale

Interview: "Was ist eigentlich los in diesem Land?"

13 Regisseure, ein Omnibusfilm: „Deutschland 09“ zeigt Heimatgefühle. Ein Gespräch über gelebte Demokratie und nationale Identität.

„Deutschland ’09“, das Deutschlandgefühl, das Heimatgefühl: Wie nähert man sich so einer Frage mit einem Kurzfilm?



NICOLETTE KREBITZ: Tom Tykwer, einer der drei Produzenten, hat mich angesprochen, meine erste Idee war eher etwas kryptisch: Susan Sontag, Ulrike Meinhof und Helene Hegemann …

… die 16-jährige Berliner Filmemacherin, die gerade einen Preis beim Max-Ophüls- Filmfest in Saarbrücken gewonnen hat …

… kommen zusammen und tauschen Texte aus, von damals und heute. Das Deutschland meiner Kindheit ist durchwirkt von RAF und Amerika. Das klingt wie eine unmögliche Kombination, die mir personifiziert durch Ulrike Meinhof und Susan Sontag aber logisch erscheint. Helene habe ich auf Myspace kennengelernt. Sie hat Meinhof in der Liste Ihrer „Freunde“. Sucht man als junge Frau jemanden, der wirklich noch cool politisch aktiv war, verehrt man sie einfach. Zur gleichen Zeit wurde Susan Sontag in Amerika viel gelesen und ein Text zu Viet nam brachte sie in eine überraschend radikale Position. Beide Biografien verliefen sehr unterschiedlich. Sich als junge deutsche Autorin dazwischen zu positionieren, finde ich interessant.

Frau Stever, Ihr Beitrag ist dokumentarisch, es geht um ein Völkerballspiel im Sportunterricht.

ISABELLE STEVER: In der Münchner Grundschule, wo meine Schwester Referendarin war, gab es viele Aggressionen. Deshalb rief sie einen Klassenrat ins Leben. Drei Tage später rief mich die Produzentin an und ich schlug einen Film über so einen Klassenrat vor. Wenn man Kindern die Möglichkeit gibt, die Konsequenzen ihrer Ansichten und Pläne zu erleben, haben sie die Chance zu einem selbstbestimmteren Leben.

Was war der Ausgangspunkt? Omnibusfilme entstehen ja oft in Zeiten der Ratlosigkeit, der Verunsicherung, wie nach dem deutschen Herbst oder dem 11. September.

DIRK WILUTZKY: Die Idee kam in einem Gespräch zwischen NDR-Redakteuren und Tom Tykwer auf. Wir merkten: Es gab ein allgemeines Unbehagen – lange vor der Finanzkrise lauerte da etwas. Wir wollten wissen: Was ist eigentlich los in diesem Land? Der Ausgangspunkt ist also diffuser als bei „Neues Deutschland“, dem Kompilationsfilm nach dem Mauerfall. Wir trugen eine Namensliste zusammen, einige kamen hinzu, es war ein organischer Prozess.

Es gab nur eine Vorgabe: die Länge von fünf bis 12 Minuten.

KREBITZ: Interessanterweise haben sich alle Frauen an diese Zeitvorgabe gehalten. Die meisten Männer nicht.

BECKER: Ich bin immer noch 15 Minuten lang – wobei ich schon mein Drehbuch von 60 Minuten auf sensationelle 25 Minuten gekürzt hatte. Ich habe wirklich gerungen. Nun ist es der Pilotfilm zu einer Kurzfilm-Krankenhausserie geworden.

„Deutschland im Herbst“, der Film von Kluge, Fassbinder, Schlöndorff und anderen über das RAF-Trauma von 1977, die Stammheim-Toten und Mogadischu, ist das heute nur ein historisches Dokument?

STEVER: Ich mochte die Episode mit der Beerdigung von Hanns-Martin Schleyer, die Musik dabei, die hohe Emotionalität. Am Ende läuft eine alternativ gekleidete Frau mit einem Kind über die Straße, und dann folgen die Namen der Filmemacher. Ich dachte, der Film erzählt über eine Generation, die sich am Ende irgendwo verraten hat.

KREBITZ: Vielleicht ist es mehr ein Aufgeben als ein Verrat. Was wäre gewesen, wenn Ulrike Meinhof alt geworden wäre? Hätte sie vielleicht auch einfach nur noch glücklich leben wollen? Die Toskana ist ja wie ein schwarzes Loch. Alle Linken verschwinden darin. Wer nicht völlig durchdrungen ist von der Idee der Gerechtigkeit, kämpft irgendwann nicht mehr.

Aber einer wie Alexander Kluge hat sich doch nicht verraten!

KREBITZ: Finde ich auch nicht. Aber was ist überhaupt ein politischer Film? Oder wie kann er heute sein? „Die fetten Jahre sind vorbei“ von Hans Weingartner gilt als politischer Film. Wirklich stören tut dieser Film aber niemanden. Eigentlich hat ja auch dieser entführte Politiker den überzeugendsten Vortrag. Die Filme der Dardenne-Brüder finde ich politisch. Oder „Yella“ von Christian Petzold.

BECKER: Dominik Graf erzählt in „Deutschland ’09“ vom schnellen Wohnungsbau nach dem Krieg, diese Häuser will man jetzt wieder loswerden. Aber es ist die Spur einer Zeit, die da verschwindet. Das architektonische Weichbild Deutschland als Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse – auch das ist hochpolitisch.

Wie demokratisch verlief denn der Entstehungsprozess von „Deutschland ’09“?

BECKER: Es war ein bisschen wie an Filmschulen. Man kritisiert die anderen nicht, damit die einen auch nicht kritisieren.

STEVER: Ich betreute als Dozentin an der dffb gerade die Erstjahresfilmer, auch das war eine Gruppe von Kurzfilmern. Zwar war die „Deutschland ’09“- Gruppe viel erwachsener, aber es fiel mir manchmal schwer, das nicht zu verwechseln.

WILUTZKY: Es gab wenig Zoff, ich habe es als sehr harmonisch empfunden …

KREBITZ: ... außer vielleicht die sehr dramatische, aber über Mails doch demokratisch herbeigeführte Entscheidung über die Länge: Dann dauert der Film eben 150 Minuten, auch wenn das Zuschauer kostet. „Deutschland ’09“, da ist viel Deutschland drin, viele Eigenarten, viele Neurosen. Regisseure sind ja noch viel verrückter als Schauspieler.

STEVER: Ich hätte meinen Film über den Klassenrat eigentlich nochmal drehen können, mit uns selbst als Protagonisten.

WILUTZKY: Isabelle Stevers Film, der ja in einer Art gelenkten Diktatur endet, beschreibt unseren Gruppenprozess jedenfalls ziemlich genau, mit den anfangs monatlichen Treffen und gemeinsamen Screening-Terminen nach dem Dreh.

Wer hat denn über die Reihenfolge entschieden?

KREBITZ: Die Produktion hat Tom Tykwers Cutterin Mathilde Bonnefoy gebeten, eine Reihenfolge vorzuschlagen ...

WILUTZKY: ... und im kleineren Kreis dann viele Reihenfolgen ausprobiert, bestimmt 70 oder 80 verschiedene.

Deutschsein, Zuhause-Sein, wo ist das für Sie? Wir haben ja spätestens seit der WM ein entspannteres Gefühl zu unserer nationalen Identität.

BECKER: Selbstgeißelung mochte ich schon vor 20 Jahren nicht. Aber der Prozess ist nicht abgeschlossen; es gibt immer mehr Rechtsradikale, gerade im Umland von Berlin. Die Ungeheuerlichkeit des Holocaust muss man nicht ständig betonen, aber sie ist unleugbar da. Für mich ist Deutschsein vor allem die Sprache. Ich mag unsere Sprache, sie sorgt für Vertrautheit und hat philosophisch und kulturell in den letzten Jahrhunderten sehr viel bewegt. Ich bin fast gestorben, als ich auf der Berlinale den „Vorleser“ gesehen habe. Ein deutsches Thema, mit Deutschen, die britisches und amerikanisches Englisch reden oder Englisch mit nord- oder süddeutschem Akzent. Das ist so bizarr wie damals „Amadeus“, in dem Mozart mit New Yorker Akzent sprach.

STEVER: Ich denke nicht so in Ländern, ich denke mehr in Menschen. Mein 16-jähriger Sohn tauscht sich mit einem Myspace-Freund in Israel über ihrer beider Musikkompositionen aus. Beim Frühstück erzählte ich ihm, was gerade in Gaza los ist, zwischen den beiden war das gar kein Thema, das fand ich gut.

Das Gespräch führte Christiane Peitz.

Tom Tykwer hatte die Idee, der Film läuft im Wettbewerb außer Konkurrenz

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