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Der Holzschnitt "Die große Welle bei Kanawaga" des japanischen Künstlers Hokusai ist fast 200 Jahre alt. Das Bild zeigt, wie verwurzelt der Umgang mit den Naturgewalten in der japanischen Kultur ist.

© bpk/RMN/Richard Lambert

Interview: Widerstehen ist alles

Eine Woche nach der Flut: Angesichts der verheerenden Katastrophe bleiben die Japaner erstaunlich gelassen. Für viele Europäer ist das unverständlich. Die Japanologin Gesine Foljanty-Jost aber kann das erklären.

Japan durchlebt einen Albtraum. Ein apokalyptisches Erdbeben, ein verheerender Tsunami, eine Atomkatastrophe. Dennoch hat man den Eindruck, dass die Japaner das alles in stoischer Ruhe ertragen. Wie erklären Sie sich das?
Es ist wie ein Schockzustand, erst einmal abwarten, innehalten und sich orientieren. Darüber hinaus muss man sagen: Gefühl ist für Japaner etwas, was man nicht in dieser Form nach außen gibt, und zwar im positiven wie im negativen Sinn. Die größten persönlichen Katastrophen mit einem Lächeln im Gesicht mitzuteilen – das ist für Europäer schlecht nachvollziehbar. Es ist tatsächlich so etwas wie diese Dichotomie von „Tatemae“ und „Honne“ – dieses Die-Form-nach-außen- und-das-Wahre-nach-innen-Tragen – und das Wahre nach innen ist etwas, was nicht öffentlich gezeigt wird. Das ist ja momentan das Dauerthema: Warum sind sie so kontrolliert? Aber ich widersetze mich der Mystifizierung des Andersseins der Japaner, denn auch dort fließen Tränen. Die Bilder aus Haiti waren anders, das steht fest.

Woher kommt diese unheimliche Disziplin?
Die Disziplin ist tatsächlich etwas, was allumfassend eingeübt wird, ein tief verinnerlichter sozialer Anpassungsdruck. Da wird gern typischerweise das japanische Sprichwort herangezogen: Der Nagel, der herausschaut, muss eingeschlagen werden.

Japan hat 1945 mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki erlebt, was atomare Zerstörung und Verseuchung bedeutet. Warum haben die Japaner dennoch im großen Stil auf die Kernenergie gesetzt?
Die große Wende in der Energiepolitik kam 1973. Bis dahin hatte Japan im Zuge des Wiederaufbaus nach 1945 vollständig aufs Öl gesetzt. Japan hat keine eigenen Ressourcen, die Abhängigkeit vom Öl bedeutete Abhängigkeit von den Erdöl produzierenden Ländern und vom internationalen Ölpreis. Das Ganze ist bei der Ölkrise 1973 zusammengebrochen. Heute hat Japan in der Stromerzeugung ein relativ ausgewogenes Tableau. 30 Prozent Atomstrom, 30 Prozent Kohle, das Öl liegt ungefähr bei 40 Prozent. Erneuerbare Energien liegen etwa bei ein bis zwei Prozent.

Gab es wegen der historischen Erfahrung eine Anti-Atom-Bewegung?
Das Problem der militärischen Nutzung der Atomenergie wurde in Japan nach 1945 schnell und kritisch aufgegriffen. 1954 wurde beim Bikini-Atoll ein japanisches Fischerboot bei einem Atombombentest verstrahlt. Das war der Auslöser für die Entstehung einer breiten Anti-Atombomben-Bewegung. Sie hat den Schwenk in den Kampf gegen den zivilen Gebrauch von Atomenergie eigentlich erst mit Tschernobyl vollzogen, versteht sich aber bis heute als Friedensbewegung. Sie war nie als nationale Bewegung vor Ort aktiv. Die Anti-Kernkraftwerksbewegung ist lokal, die gibt es im ganzen Land überall dort, wo Atomkraftwerke geplant sind oder gebaut worden sind.

Haben diese lokalen Anti-Akw-Bewegungen Erfolg?
Die Landkarte der Atomkraftwerke zeigt, dass diese Gruppen durchaus erfolgreich gewesen sind. Das Besondere in Japan ist die hohe Konzentration von vielen Reaktoren an einem Ort, wie etwa in Fukushima. Man kann es auch auf der Rückseite am Japanischen Meer sehen, da reihen sich die Atomkraftwerke aneinander. Es sind strukturschwache Gebiete, in denen diese Atomkraftwerke gebaut sind. Strukturschwach heißt billige Bodenpreise und geringer Widerstand. Ich kann mich an eine berühmte Auseinandersetzung in den achtziger Jahren in dem Ort Maki erinnern, bei Niigata, das für seine lange Geschichte schwerster Erdbeben bekannt ist. In Maki haben die Bürger gesiegt. Das Kraftwerk ist nicht gebaut worden, weil die Bauern ihren Boden nicht verkauft haben. Die Bewegungen sind lokal. Japan hat bis heute keine national vernetzte Anti-Atombewegung. Das ist typisch und gilt für jede Form von sozialer Bewegung und Bürgerinitiative in Japan.

Japan hat Erfahrung mit Erdbeben. Aber nun stehen viele dieser Kraftwerke ausgerechnet dort, wo mit Erdbeben zu rechnen ist. Hat man das in Kauf genommen?
Das ist aus unserer europäischen Sicht schlecht zu verstehen. Ich biete eine Interpretation an. Es ist der Glaube an den technologischen Fortschritt und die technologische Kontrollierbarkeit von Atomkraftwerken. Das Zweite ist natürlich eine völlig nachvollziehbare kollektive Verdrängung der Erdbebenproblematik. Sonst würde niemand in Tokio wohnen können. Sonst könnten Japaner eigentlich nicht mehr ruhig einkaufen oder Mittag essen gehen. Die Erdbebengefahr ist immer da, bis zu 5000 Mal im Jahr wackelt die Erde unterschiedlich stark. Jeder Mensch entwickelt offensichtlich einen Mechanismus des Verdrängens und Vertrauens in die Technik, in den Staat, in die Politik, es wird schon klappen.

Ist dieses Vertrauen in den technischen Fortschritt nun erschüttert oder nimmt man das hin?
Das Atomkraftwerk Fukushima war alt. Ich halte es daher durchaus für vorstellbar, dass dies mit dem Glauben an die technologische Machbarkeit nicht unbedingt zwingend etwas zu tun hat. Das Erdbeben ermöglicht eine andere Sichtweise, nämlich zu sagen: Es war einfach eine Naturkatastrophe, deren Ausmaß nicht vorhersehbar war. Wir brauchen eben noch bessere, noch sicherere Atomkraftwerke, denn wir haben keine Alternativen zu der Atom-Technologie, und dazu haben wir einen Klimaschutzbeitrag zu leisten. Die andere Sichtweise wäre bei all dem Elend, tatsächlich in sich zu gehen und zu sagen: Ein Land, das auf der Schnittstelle von drei großen Platten liegt, hat gesetzte Grenzen, was die Atom-Technologie auf dem heutigen Stand in ihrer gesamten Problematik angeht. Man müsste erwarten, dass ein Umdenken stattfindet.

Wie reagieren Ihre Kollegen in Japan?
Ich habe natürlich sofort nach dem Erdbeben mit den Kollegen in Japan Kontakt aufgenommen. Meine Kollegen aus den Sozialwissenschaften hatten immer den kritischen Blick gehabt. Das sind die, die in Japan publizistisch hervorgetreten sind und sehr viel über die deutsche Bewegung nach Japan transportiert haben, über die deutsche Energiepolitik, etwa die Einführung der Ökosteuer. Das ist in Japan als Modell diskutiert worden. 2005 im Deutschlandjahr wurde Deutschland als ökologischer Vorreiter in Japan sehr stark beachtet. Die deutsche Atompolitik und die Ausstiegsszenarien hatten in Japan Signalcharakter und für viele japanische Wissenschaftler Vorbildcharakter.

Denken Sie, dass diese Trias der Katastrophen das Selbstverständnis der Nation verändert oder schweißt das eher noch mehr zusammen?
Es schweißt mehr zusammen. Es ist die Selbstwahrnehmung: Wir sind ein von Naturkatastrophen geplagtes Land, aber wir haben immer widerstanden. Ich kann mich erinnern, dass es noch Jahre gab, wo der Mensch wirklich einem Taifun ausgesetzt war, wo man nicht wusste, wann er kommt. Das ist heute alles unter Kontrolle. Da ist auch das Gefühl entstanden, man hat sich mit Technologie diesen Naturkatastrophen ein Stück entzogen. Ich kann mich an die letzten Tsunami-Warnungen im japanischen Fernsehen erinnern. Da wurde bei einem Beben vor Indonesien völlig präzise vorhergesagt, wann eine Welle wie hoch wo genau auftritt. Das heißt, im Dorf XY sollten die Leute um X Uhr höhere Lagen aufsuchen. Das führt natürlich zu der kollektiven Wahrnehmung von Sicherheit und Kontrollierbarkeit. Das jetzige Beispiel zeigt: Der Tsunami ließ den Behörden keine Zeit, rechtzeitig zu warnen. Da kann man natürlich sagen: Gut, dann müssen wir technologisch weitermachen, noch besser werden. Das Problem ist, dass die Atomfrage jetzt in eine Naturkatastrophe eingebettet ist. Und die hat man immer überlebt und mit höchster Technologie diese Risiken immer weiter minimiert. Nicht umsonst ist Japan drittstärkste Wirtschaftsmacht.

Das Gespräch führte Rolf Brockschmidt.

Gesine Foljanty-Jost ist seit 1992 Professorin für Japanologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 2009 erschien ihr Buch „Kommunalreformen in Deutschland und Japan“.

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