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Projektionsflächen. Die Kandidaten als Kartonaufsteller auf dem Campus der Lynn University in Florida, wo am heutigen Montagabend die dritte Fernsehdebatte zwischen Präsident Barack Obama und Herausforderer Mitt Romney stattfindet.

© Joe Raedle/Getty Images/AFP

Interview zum US-Wahlkampf: „Amerika ist ein Dritte-Welt-Land“

Vor dem dritten TV-Duell: Der New Yorker Essayist Eliot Weinberger über Mitt Romneys Fehler, die sagenhaften Unterhosen der Mormonen und Obamas Inszenierungen von Ehrlichkeit.

Eliot Weinberger, 1949 in New York geboren, gehört zu den bedeutendsten Essayisten Amerikas. Auch als Übersetzer aus dem Spanischen hat er sich einen Namen gemacht, schon mit 19 Jahren übertrug er den Mexikaner Octavio Paz ins Englische. Hierzulande wurde er durch den Kriegslügen-Essay „Was ich hörte vom Irak“ (2005, in „Lettre International“) bekannt. Zuletzt erschienen von ihm die Bände „Das Wesentliche“ (2008) und „Orangen! Erdnüsse!“ (2011) im Berliner Berenberg-Verlag.

Mister Weinberger, im amerikanischen Wahlkampf wird jede Woche eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Wie in anderen Ländern auch bleiben Fakten und Programme da leicht auf der Strecke. Muss man sich damit abfinden?

Vor allem unsere Fernsehnachrichten operieren gern auf Grundlage dieser kollektiven Amnesie. Aber immerhin haben wir das Internet. Inzwischen gibt es tausende investigativer Journalisten, deren Entdeckungen häufig die breite Öffentlichkeit erreichen. Immer, wenn ein Politiker etwas sagt, gehen sie durch dessen frühere Reden und Interviews und finden heraus, wo und wann er sich selbst widersprochen hat. Das ist fantastisch.

Welche Nachrichten über Mitt Romney kursieren denn in der Blogosphäre?
Romneys Patzer hören ja niemals auf. Er hat die Leute nicht nur damit verärgert, dass angeblich 47 Prozent der amerikanischen Bevölkerung Schmarotzer sein sollen, sondern sich auch über die billigen Regenmäntel der Besucher bei NascarAutorennen lustig gemacht und über alte Damen, die Kekse für ihn backen. So wird immer wieder deutlich, dass er sein Leben unter den Superreichen verbringt. Kürzlich hat er sein Strandhaus für 12 Millionen Dollar renovieren lassen. Seine Frau Ann gibt 400.000 Dollar im Jahr für ihre Dressurpferde aus. Er bezahlt lächerlich wenig Steuern und legt sein Geld auf den Kaimaninseln und in der Schweiz an. Und er scheint nie auf die Idee gekommen zu sein, dass all das bei den Wählern nicht besonders gut ankommen könnte.

Warum sind Sie nach wie vor fest davon überzeugt, dass Romney die Wahl nicht gewinnen wird?
Was Amerikaner an einem Kandidaten am meisten schätzen, ist seine Glaubwürdigkeit. Es kommt ihnen weniger darauf an, woran er glaubt, sondern vor allem, dass er daran glaubt, was er sagt. Deshalb waren Ronald Reagan, Bill Clinton und George W. Bush so beliebt. Auch Barack Obama ist ein extrem glaubwürdiger Präsident. Romney hingegen hat bisher bei jedem politischen Thema beide Seiten eingenommen. Und es war ein großer Fehler von ihm, Paul Ryan, das Wunderkind der Tea Party, als seinen Stellvertreter zu nominieren und dessen ideologische Agenda zu übernehmen. Als Gouverneur in Massachusetts verfolgte Romney noch eine moderate Linie. Inzwischen will er auf jede Regulierung von Banken und Industrie verzichten und außer einem Großteil der Steuern für das obere ein Prozent der Bevölkerung auch noch die Reste des Sozialsystems eliminieren.

Auch die derzeitigen Umfragewerte und Obamas suboptimaler Auftritt beim ersten der drei Fernsehduelle können Ihre Überzeugung nicht erschüttern?
Das zweite TV-Duell letzte Woche hat Obama ja wieder für sich entschieden. Inzwischen ist klar, dass Romneys Umfragehoch nach dem ersten Duell kaum zu halten ist. An 27 Stellen sagte er die Unwahrheit und attackierte dann auch noch Bibo von der Sesamstraße; in Wahlwerbespots wird das bestimmt gegen ihn verwendet. So wird man nicht Präsident.

Die schärfsten Angriffe auf Obama zielten bisher auf dessen Glaubwürdigkeit. Wie hat er es geschafft, sich von Debatten wie der um seine Geburtsurkunde oder dem Gerücht, er sei Muslim, nicht aus der Ruhe bringen zu lassen?
Indem er seine politischen Grundsätze nicht verraten hat. Es gibt verschiedene Arten, damit umzugehen, ein Schwarzer in diesem Land zu sein. Eine davon besteht darin, an einer Idee von Nobilität festzuhalten, was immer auch geschieht. Die meisten afroamerikanischen Politiker haben versucht, ihre Ehrbarkeit zu bewahren und sich aus der schmutzigen Seite der Politik herauszuhalten. So auch Obama, mit großem Erfolg. Trotz der republikanischen Obstruktionspolitik ist es ihm gelungen, eine Gesundheitsreform auf den Weg zu bringen – etwas, woran die meisten Präsidenten vor ihm gescheitert sind. 30 Millionen Amerikaner werden erstmals krankenversichert sein. Mit seinen Steuererleichterungen für die Mittelschicht hat er mehr gegen die Einkommensungleichheit unternommen als jeder andere Präsident seit 40 Jahren. Er hat zwei Frauen an den Supreme Court berufen. Und es ist ihm gelungen, die mittlere Regierungsbürokratie nach dem Ausfall der Bush-Jahre wieder funktionsfähig zu machen.

"Der Kulturkrieg ist im Grunde vorbei"

Eliot Weinberger, 1949 in New York geboren, gehört zu den bedeutendsten Essayisten Amerikas.
Eliot Weinberger, 1949 in New York geboren, gehört zu den bedeutendsten Essayisten Amerikas.

© picture alliance / dpa

Trotzdem heißt es oft, dass die Konservativen ihn mit einem besseren Kandidaten schlagen könnten, schon wegen der wirtschaftlichen Lage des Landes. Warum war es so schwer, einen solchen Kandidaten zu finden?
Romney war die beste Wahl, weil die anderen Kandidaten zu radikal waren und einige von ihnen schlicht verrückt wirkten. Die wahren Konservativen befinden sich im heutigen Amerika bei den Demokraten, die zwar schrittweise Veränderungen zulassen, aber im Großen und Ganzen den Status quo erhalten wollen. Früher haben die Republikaner noch wirkliche Politik gemacht, zum Beispiel waren sie die treibende Kraft in der Anfangszeit der Umweltschutzbewegung. Selbst Obamas Gesundheitsreform wurde in den 90er Jahren von der Heritage Foundation entwickelt, einem republikanischen Think Tank. Aber solche Republikaner gibt es nicht mehr. Die Partei wird sich nach den Wahlen neu erfinden müssen.

Auch die christlichen Kulturkrieger, die die politische Diskussion bestimmt haben, scheinen an Einfluss verloren zu haben …
Der Kulturkrieg ist im Grunde vorbei. Die Zahl der Leute die daran festhalten, wird immer kleiner. Das hat viel mit dem demografischen Wandel zu tun. Die wütenden, alten weißen Männer werden gegenüber der hispanischen, schwarzen und asiatischstämmigen Bevölkerung bald in der Minderheit sein. Und die Generation der Unter-40-Jährigen interessiert sich nicht mehr für moralische Themen. Ich finde es höchst erstaunlich, wie schnell sich die amerikanische Kultur verändert hat. Die Mehrheit der Bevölkerung befürwortet heute die Homoehe. Vor zehn Jahren hätte ich gesagt, dass das in hundert Jahren nicht passieren wird. So gut wie jede US-Fernsehserie hat inzwischen schwule Figuren. Und wir haben einen schwarzen Präsidenten.

Denken Sie, dass Romneys Religion im Wahlkampf noch Thema sein wird?
Gute Frage, sein Mormonentum wird bisher noch nicht groß öffentlich verhandelt. Auf dem Land ist man zutiefst misstrauisch gegenüber seiner Glaubensgemeinschaft, Mormonen gelten dort als Sonderlinge. Dabei geht es nicht nur um ihre altmodische, bis zu den Knien reichende und mit kirchlichen Symbolen bestickte Unterwäsche oder um die Polygamie, wie sie in der Generation von Romneys Urgroßvater praktiziert wurde. Der gesamte mormonische Gospel ist ziemlich schwer zu verdauen. Er besagt, dass Jesus Christus nach seiner Auferstehung nach Amerika kam, um die Indianer zu bekehren, die verlorenen Kinder Israels. Außerdem glaubt die mormonische Kirche, dass jeder Mensch posthum konvertiert werden muss, damit es zum Jüngsten Gericht kommt.

Und hat das konkrete Folgen?
Als Mormone bekommt man täglich eine Liste mit Namen von Toten, die man nachträglich tauft. Deswegen hat man in Utah auch das größte genealogische Archiv der Welt eingerichtet. Darüber sind weder die jüdischen Organisationen besonders glücklich, die sich damit konfrontiert sehen, dass die sechs Millionen Opfer der Schoah konvertiert wurden. Noch können sich die Evangelikalen damit abfinden, wenn Tante Tilly nach ihrem Tod plötzlich zur Mormonin gemacht wird.

Was sollten Europäer unbedingt über Amerika wissen, um das Land zu verstehen?
Es ist für Europäer schwer zu verstehen, dass es sich bei den Vereinigten Staaten im Grunde um ein sehr reiches Dritte- Welt-Land handelt. Die schiere Anzahl der Menschen, die hier in Armut leben, ist ungeheuer deprimierend. Eigentlich sollten wir ein Mittelstandsland sein, wie wir es in den 50er, 60er und 70er Jahren waren. Mein Vater hat nie mehr als 20 000 Dollar im Jahr verdient. Das Leben, das er seiner Familie ermöglichen konnte – eine Wohnung in New York, ein Urlaub im Jahr und eine gute Schulausbildung für die Kinder –, würde heute ungefähr eine halbe Million Dollar kosten.

Das Gespräch führte Daniel Schreiber. Hier geht es zu weiteren Texten zur US-Wahl.

Daniel Schreiber

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