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Damen in Sommerkleidern, Herren in Anzügen: "Iraqi Odyssey".

© Berlinale

"Iraqi Odyssey" auf der Berlinale: Geschichten aus dem Sorgenland

Der Schweiz-Iraker Samir ist ein passionierter Erzähler. Im Panorama läuft seine epische Dokumentation über 100 Jahre "Iraqi Odyssey" - in 3-D.

Auf alten Schwarz-Weiß-Fotos sieht man Damen in geblümten Sommerkleidern, Herren in eleganten Anzügen, Kinder, die halb neugierig, halb verlegen in die Kamera gucken, während die Erwachsenen festliche Mienen aufgesetzt haben. Die Bilder könnten überall in der westlichen Welt aufgenommen worden sein, denkt man – tatsächlich aber sind sie im Irak entstanden. Die auf Zelluloid gebannten Momente bürgerlichen Familienglücks sind Teil des umfangreichen Archivmaterials, das der Schweizer Dokumentarfilmer Samir in seiner Familiensaga „Iraqi Odyssey“ ausbreitet. Der Name dieser Familie ist Jamal al Din, aber der Filmemacher tritt unter seinem Vornamen auf – warum? „,Jamal al Din‘ bedeutet ,Schönheit der Religion‘. Ich weiß nicht, wie es Ihnen gehen würde, wenn Sie nicht sehr religiös wären, und Sie müssten immer sagen, ‚Guten Tag, mein Name ist Schönheit-der-Religion‘“, sagt der 1955 in Bagdad geborene Filmemacher. „Samir ist für mich perfekt, weil das ,Geschichtenerzähler‘ bedeutet.“

Ein passionierter Erzähler ist Samir wirklich, das macht sich im Interview bemerkbar und erst recht in seiner 162 Minuten langen Dokumentation, in der er nicht nur die Geschichte seiner Familie über drei Generationen, sondern auch die des Iraks in den letzten 100 Jahren erzählt. Und das, für eine Dokumentation überraschend, in 3-D.

Samir lässt Zwischentitel auf Englisch und Arabisch laufen

Samir, der eine Schweizer Mutter und einen irakischen Vater hat, ist als Kind mit seinen Eltern in die Schweiz gekommen, seine Familie ist über die ganze Welt verstreut – außerhalb des Iraks leben mehr Irakis als innerhalb, heißt es an einer Stelle des Films. Samir hat seine Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins in Auckland und Moskau, in London, in Buffalo und an etlichen anderen Orten besucht, um die Fragen zu stellen, die ihn schon lange umtreiben: „Manchmal denke ich, dieser Film hat mein ganzes Leben gedauert.“

Auf der Suche nach seinem Land. Filmemacher Samir in Berlin.
Auf der Suche nach seinem Land. Filmemacher Samir in Berlin.

© Davids/Darmer

Das 3-D-Verfahren erlaubt eine Staffelung der Bildebenen in die Tiefe, und so erzählen im Mittelgrund die sämtlich wortgewandten, teils charismatischen Verwandten ihre Geschichten, während vor ihnen erläuternde Zwischentitel auf Englisch und Arabisch durchs Bild laufen und im Hintergrund Archivmaterial zu sehen ist: Fotos, Amateurfilme, Ausschnitte aus Wochenschauen und Spielfilmen.

Entstanden ist ein ästhetisch ansprechendes Epos, dessen Fluss man sich überlassen kann, ohne in jeder Minute total aufmerksam sein zu müssen. Tatsächlich glaubt man Samirs orientalische Wurzeln in diesem Filmformat zu entdecken, es ist offensichtlich, dass er fasziniert ist von der unbändigen Fabulierlust einiger seiner Onkel – und auch wenn knapp drei Stunden lang sind, scheint die Zeit doch längst nicht auszureichen, um all das zu berichten, was ihnen auch noch auf der Seele läge.

Vor Saddam Hossein herrschte Freiheit und Weltlichkeit

Ansonsten aber ist Samir so schweizerisch, wie es nur geht, inklusive Sprachmelodie und -duktus, und manchmal ist es für ihn erstaunlich, dass er trotzdem immer wieder aufs Arabisch-Muslimische festgelegt wird: „Das Absurdeste war, dass ich vor vier Jahren in einer Fernsehdiskussion aufgetreten bin, wo ich als säkularer Kommunistensohn gegen die Populisten aus der christlichen Ecke antreten musste, weil sie das Minarettverbot einführen wollten. Als Araber sollte ich die Muslime verteidigen. Ich habe das gemacht – als Schweizer Bürger, der die Grundrechte verteidigt.“

Die Entwicklung des Irak im letzten Jahrhundert liefert die Motive für die persönlichen Geschichten von Samirs Protagonisten, und angesichts der um 1960 entstandenen Straßen- und Familienszenen wundert man sich über die Atmosphäre heiterer Weltoffenheit, die elegante Boulevards, Straßencafés und modebewusste Passantinnen ausstrahlen. 1958 war der von Großbritannien unterstützte König Faisal II. gestürzt worden und der Irak erklärte sich zur unabhängigen Republik. Für eine Dekade herrschte dort eine nie gekannte Freiheit und Weltlichkeit; 1968 übernahm die Baath-Partei die Regierung, aus der 1979 Saddam Hussein als uneingeschränkter Herrscher hervorging.

"Das supremate Denken des Westens"

Dass nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bereits die Briten, nachdem sie den Betrieb ihrer Kriegsflotte von Kohle auf Benzin umgestellt hatten, das ölreiche Territorium zu beherrschen versuchten, auch das macht Samirs Film deutlich. Sogar die jungen Iraker kennen die Geschichte des Landes nicht mehr, erklärt der Filmemacher und berichtet stolz, dass für den Film eine Premiere in Bagdad geplant ist. Zwar sind alle Kinos zerstört, aber Freunde von ihm haben ein Wanderkino errichtet, das „Iraqi Odyssey“ zeigen wird. „Es ist heute im Irak vieles möglich, nicht in den vom IS beherrschten Gebieten natürlich, aber im Süden, und in Kurdistan sowieso. Der Wille der Irakis, sich ihre Geschichte wieder anzueignen, das ist ein Hoffnungsschimmer.“

Gefragt, was ihm angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme wichtig ist, zögert Samir keine Sekunde: „Das supremate Denken des Westens ist eines der größten Hindernisse, um irgendwann mal in eine Politik zu kommen, in der man auf Augenhöhe miteinander umgehen kann.“

9.2., 20 Uhr (Cinestar 7), 10.2., 17.30 Uhr (Cubix), 13.2., 20 Uhr (Cinestar 7), 14.2., 12 Uhr (Cinestar 7)

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