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Kultur: Irrgarten im Schlaraffenland

Reinhard Mohr hadert in seiner Philippika „Bin ich jetzt reaktionär?“ mit sich – und der Gegenwart.

So hat er sich das nicht vorgestellt. Reinhard Mohr, von Beruf Autor und von Herkunft links, hadert mit der deutschen Wirklichkeit. Er betrachtet die Gegenwart, vergleicht sie mit den Erwartungen und Hoffnungen seiner Jugend. Die liegt ein paar Jahrzehnte zurück – Mohr ist 1955 geboren – und fand in Frankfurt am Main zu einer Zeit statt, als die Erschütterungen von 1968 noch wirkten. Wer jung war, war links, glaubte an den „Fortschritt“ und kämpfte für eine große Utopie. Das ist verdammt lang her. Vor allem hat sich, was Mohr damals unter „Fortschritt“ verstanden hat, nicht eingestellt. Mohrs Hader ist der Hader des enttäuschten Linken, der Groll des älteren Herrn angesichts einer Realität, die ihm missfällt.

Früher konnte man so was häufiger lesen. Es hieß „Gesellschaftskritik“ und troff vor Bitterkeit und Zynismen. Wolfgang Pohrt war ihr Großmeister. Heute übernimmt Comedy die Gesellschaftskritik. Bitterkeit geht nicht mehr, allenfalls Ironie. Mohrs Traktat über eine Wirklichkeit, die seinen Erwartungen nicht gerecht geworden ist, ist dem Trend zum Hinweglächeln über ungute Entwicklungen angepasst: Der Mann schreibt leicht und ironisch, hadert mit seinem Hader und blickt in den Spiegel, fest entschlossen, die Abgründe seiner Magenbitterfalten zu erforschen.

Beide, die enttäuschte Hoffnung und die herabgezogenen Mundwinkel des Autors, machen „Bin ich jetzt reaktionär?“ zu einem absolut lesenswerten Buch. Dass die titelgebende Frage bloß eine rhetorische ist, dass der Großkritiker der politischen Korrektheit Henryk M. Broder dem Kollegen Mohr im Nachwort ein „Welcome to the Club“ der Reaktionäre entgegenruft – geschenkt. Es ist doch schön, wenn ältere Männer nicht allein in Selbstgesprächen hadern. Mohrs Rückblick auf die wilden Siebziger indes macht diese oft zu Unrecht geschmähte Zeit so lebendig, wie sie war, wenn man sich einließ auf das, was damals als „Fortschritt“ galt, als politisch ganz vorne, als gesellschaftliche Arbeit an einer besseren Welt.

Mohr gehörte zu denen (darüber hat er vor Jahren mal das Buch „Zaungäste“ geschrieben), die sich immer als die kleinen Brüder der 68er verstanden haben. Er und seine Altersgenossen mussten, nein: durften ohne die Erfahrung, am 2. Juni 1967 an der Deutschen Oper in Berlin von Polizisten verprügelt worden zu sein, politisch erwachsen werden. Die Siebziger – das war eine Zeit der kleinen Alltagsrevolutionen, der endlosen Wohngemeinschaftsdebatten, der linken und radikalen Mühen der Ebene – und der hochabstrakt-unverständlichen Polit-Rhetorik. Es war die Zeit einer „romantisch gefärbten Widerstandskultur“, eine „Verdichtung radikaler utopischer Strömungen“. Wie sich das anfühlte, wie sich Theorie und Alltag verbanden, beschreibt Mohr mit Ehrlichkeit, Humor und Sinn für Details bis zur lila Latzhose: „Für ein paar Jahre avancierte sie zum Lieblingskleidungsstück feministisch gesinnter Aktivistinnen. Doch auch einige Männer, vorwiegend von obelixhafter Gestalt, trugen dieses sackartige Ganzkörper-Kondom mit breiten Hängeträgern, Brusttasche und schlabbernden Hosenbeinen. Bei den Frauen kam hinzu, dass sie auf den BH verzichteten: das letzte verbliebene Korsett, das die Frau zum Objekt männlicher Zurichtung machte.“ Indes wurde auch endlos viel Zeit auf die Diskussion der jeweils aktuellen „Beziehung“ aufgewandt, nur ein Gefühl war kaum Thema: Oberflächlichkeit.

Diese durchpolitisierte kleine Ära nach ’68, im Terrorismus der späten Siebziger untergegangen, hat Mohr geprägt – und die Prägung begründet seinen Groll auf die Gegenwart. Kapitelweise schreibt er sich in einen Furor über einen Zeitgeist hinein, dem der Geist fehlt und alles Begeisternde für Leute mit Sinn für echte Utopien. Und das macht er gut. Wir leben, meint Mohr, bloß noch Oberfläche. Wir erleben eine „schleichende Infantilisierung der Gesellschaft, die mit objektiven Widersprüchen oder Unvereinbarkeiten gar nicht mehr belästigt werden will“.

Mohr sieht Mittvierziger, „die dem Modestil von Zwanzigjährigen nacheifern“ (das gilt auch für Rentner) und ein Dickicht der Städte, „wo die Partnersuche dem Parcours eines endlosen kafkaesken Irrgartens gleicht, der mitten im Schlaraffenland tausendfacher Möglichkeiten liegt. Die aber scheinen wie hinter Glas zu schweben, ganz nah und ganz fern“. Wir leben in einer Zeit, die „die Optimierung des individuellen Lebens verspricht“ und jeden in eine Art Optimierungswahn hineinhetzt, in das Gefühl, ständig die optimale Wahlmöglichkeit zu verpassen. Und über uns schweben Politiker, die sich in Talkshows verkaufen und eine Sprache sprechen, die ihre Bedeutung und erst recht ihren Willen zur Wahrheit verloren hat.

Streng urteilt der alternde Linke: „Am Ende läuft alles auf die eine Frage hinaus: Wie groß ist – falls es ihn überhaupt gibt – der positive Saldo des Fortschritts? Eine präzise Antwort scheint unmöglich, denn wer wollte – neben dem unbestreitbaren Wohlstandsgewinn in weiten Teilen der Welt – behaupten, individuelles Wohlergehen, subjektives Glücksempfinden und die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung hätten in gleichem Maße zugenommen?“ Der Reaktionär, zu dem Mohr geworden ist, will keinen sogenannten Fortschritt. Er will, dass das, was er als wachsenden Irrsinn erlebt, nicht weitergeht. Er zieht sich zurück auf das, was ihm idyllisch erscheint: Früher war es nicht schlechter!

Man kann dem gut folgen – und fragt sich gelegentlich doch, ob da nicht einer die Prenzlauer-Berg-Perspektive auf die Stadt der scheinbar unbegrenzten EgoKultivierungsmöglichkeiten zu sehr verabsolutiert. Aber genau so, mit dem Kopf nickend, zustimmend grinsend, heftig zweifelnd, macht Lesen große Freude. Werner van Bebber





Reinhard Mohr:

Bin ich jetzt

reaktionär?

Bekenntnisse eines

Altlinken. Gütersloher Verlagshaus,

Gütersloh 2013.

189 Seiten, 17,99 Euro

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