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Der Mann geht vor. Shira (Hadas Yaron) aus Tel Aviv soll Yochay (Yiftach Klein) heiraten, ihren verwitweten Schwager.

© NFP

Israelisches Kino: Wir Ultraorthodoxen: Die Filmemacherin Rama Burshtein und ihr Melodram "An ihrer Stelle"

Die Regisseurin Rama Burshtein ist vor 20 Jahren aus freien Stücken der ultraorthodoxen Gemeinde in Tel Aviv beigetreten. Ihr Familien-Melodram „An ihrer Stelle“ zeigt Innenansichten ihrer abgeschotteten Community - für das säkulare Publikum. Eine Begegnung

Männer in schwarzen Gewändern, mit Pelzhüten und Schläfenlocken. Frauen in weiten Kleidern, mit Kopftüchern oder Perücken – so sieht es aus, das Stereotyp der ultraorthodoxen Juden. Sind das nicht diese Siedler-Hardliner, Leute, die fast wie im Mittelalter leben, in Vierteln wie Mea Shearim in Jerusalem, eine konservative Männergesellschaft mit strenger Geschlechtertrennung, in der Frauen keinen Führerschein machen dürfen? Irgendwann hatte Rama Burshtein all diese Zuschreibungen satt.

Bis dahin arbeitete die israelische Regisseurin bei der innerorthodoxen Frauenfilmindustrie mit, in einer Welt komplett ohne Männer – eine kleine, sich selbst finanzierende Branche in Tel Aviv, in der Frauen Filme über Frauen drehen. Einfache, unterhaltsame Produktionen für ein rein weibliches Publikum. Als Burshtein jedoch spürte, sie werde nicht mehr gebraucht, weil ihre autodikaktischen Kolleginnen sehr schnell selbst Profis geworden waren; als sie zudem merkte, dass die ultraorthodoxen Juden (in Israel leben etwa 700 000) zwar eine politische Stimme haben, nicht jedoch eine kulturelle, kam ihr die Idee zu einem Film für das säkulare Publikum.

„An ihrer Stelle“ (Originaltitel: Fill the Void) ist ein Novum in der Geschichte des Kinos: ein Film über den abgeschotteten Mikrokosmos der Ultraorthodoxen für den ungläubigen Rest der Welt. Die 18-jährige Shira (Hadas Yaron) lebt mit ihrer Familie in Tel Aviv, sie soll den Mann ihrer im Kindbett gestorbenen Schwester heiraten, damit das Enkelkind in der Familie bleibt. Zuerst sagt Shira Nein zu ihrem verwitweten Schwager, schließlich sagt sie Ja. Es ist eine Liebesgeschichte, meinen die einen. Es ist eine Opfergeschichte, schimpfen die anderen. Der Film, 2012 in Venedig uraufgeführt, lief bereits in über 20 Ländern – ein Überraschungserfolg.

„Wissen Sie, kulturell sind wir stumm“, erklärt Rama Burshtein. Die 46Jährige, zu Gast in Berlin, stürzt sich mit derart großer Passion ins Gespräch, dass man meinen könnte, es sei ihre ureigene Mission, die Stummheit zu beenden, die Vorurteile und den Schmerz des Missverstandenseins aus der Welt zu schaffen, ein für alle Mal. Eine Wucht von einer Frau, klein, energisch, sie trägt ein knöchellanges, violettes Kleid, Kopftuch, Ohrringe, Goldschmuck. Sie antwortet geduldig, mit wachsender Leidenschaft, eine Heißblütige, eine Kämpferin. „Kann hier bitte mal jemand die Klimaanlage anschalten?“

Rama Burshtein kennt beide Seiten. Die Filmemacherin stammt aus einer liberalen Familie, die Mutter Künstlerin, der Vater Seemann. Sie kam in New York zur Welt, wuchs in Israel auf, die Familie reiste viel, lebte zeitweise auf dem Schiff. Sie studierte an der Jerusalemer Filmschule, war ein „wild girl“, wie sie sagt – und wurde tief religiös. Vor 20 Jahren schloss sie sich der ultraorthodoxen Gemeinde an, heiratete einen Therapeuten und Talmudschüler, der auch als Mohel arbeitet – er nimmt Beschneidungen nach jüdischer Sitte vor. Sie leben in Tel Aviv, haben vier Kinder, um die sich ihr Mann kümmert, wenn sie unterwegs ist. So viel zum Stereotyp ultraorthodoxe Ehe.

Burshtein hat selbst das Drehbuch geschrieben. „Es ist ein Fenster in unsere Welt“, sagt sie. Ein mutiger Plot, denn es geht um das vielleicht Befremdlichste im ultraorthodoxen Alltag, die arrangierte Ehe. „Falsch“, ruft die Regisseurin, „wir nennen es arrangierte Möglichkeiten.“ Ein Heiratsvermittler macht Vorschläge, die Frau kann ablehnen. So beginnt der Film, im Supermarkt. Shira versteckt sich mit der Mutter hinter den Regalen, um einen Blick auf ihren potentiellen Bräutigam zu erhaschen. Der junge Mann gefällt ihr, man wird sich verabreden. Aber dann stirbt Shiras ältere Schwester im Kindbett, und deren Mann Yochay überlegt, eine Witwe in Belgien zu heiraten – der Enkel wäre weit weg. Also wünscht die Familie nichts sehnlicher als eine Heirat von Shira und Yochay. Bloß der Rabbi besteht darauf, dass Shira sich nicht der Familie zuliebe in ihr Schicksal fügt, sondern nur zustimmt, wenn sie Yochay liebt. Hat sie die Wahl? Oder ist es die totale emotionale Unterwerfung?

Burshteins Film begründet und ergründet nichts, er zeigt das Geschehen vielmehr in ruhigen Bildern, meist in geschlossenen Räumen, Nahaufnahmen im Breitwandformat. Licht und Schatten modellieren Shiras hübsches Gesicht. Yiftach Klein, der Yochay-Darsteller, ist ein Star in Israel, jetzt erkennt man ihn kaum mit Kippa und Vollbart – der Sexappeal der Keuschheit? Auch im Hochsommer tragen die Frauen hochgeschlossene Kleidung – und schwitzen nie? Beim Purimfest singen und trinken die Männer, die Frauen schauen bloß zu – und keine stört sich daran? Heiraten bedeutet für eine 18-Jährige das größte Glück – auch wenn die Ehe ein Blindflug ist? „Schauplatz des Films ist Shiras Herz“, betont Burshtein. Deshalb der enge Fokus, die statische Kamera, die erst am Ende in heftige Bewegung gerät. „Das Herz sieht die Dinge nicht aus größerer Entfernung, es hat keinen Überblick. Also sollte die Komplexität der Gefühle so einfach wie möglich dargestellt sein.“

Und warum ist es okay, dass Frauen und Männer nicht gleich sind? „Es geht nicht um Gleichheit, es geht um den Unterschied“, kontert sie und erläutert die Jahrtausende alte Definition der Geschlechter im Judaismus. Die Natur der Männer sei die Weisheit, die der Frauen die Kreativität. Deshalb gibt es ultraorthodoxe Schriftstellerinnen oder Filmemacherinnen, aber keine männlichen Künstler.

„Wir sind ebenbürtig, aber verschieden.“ In ihrer Zeit als wild girl in der modernen Gesellschaft vermisste sie zunehmend den Respekt vor Frauen. „Man musste sich ständig auseinandersetzen, konkurrieren, besser sein. Es ist nicht Freiheit, es ist Krieg.“ Die Chassidim mischen die Sphären des Männlichen und des Weiblichen nicht, aus Respekt.

Und weil Regeln das Leben erleichtern? Nein, die sind anstrengend, weil man herausfinden muss, wer man ist. „Sehen Sie“, sagt Rama Burshtein und zeigt auf das Wasserglas vor ihr. „Ohne das Glas würde sich das Wasser auf den Teppich ergießen, man könnte es nicht trinken. So ist es mit Regeln: Sie bringen mich nicht um, sondern machen mich lebendig, sie sind meine Flügel, nicht meine Fesseln.“

Shira im Film hadert mit den Regeln. Eine Qual der Wahl, eine Identitätssuche fast ohne Worte, in weichem, sinnlichem Licht, dass die Qual poetisch verklärt. Wobei Burshtein Wert auf die Wahlfreiheit des Zuschauers legt. Der Film sei ein Spiegel: „Entdeckt man sich nur selber oder lässt man sich ein auf die andere Welt? Lehnt man sie ab? Respektiert man sie?“

Stimmt schon, Studien zufolge halten arrangierte Ehen länger und sind glücklicher als frei gewählte Partnerschaften, in Nah- wie Fernost. Aber was geschieht, wenn eine ultraorthodoxe Jüdin die Regeln verletzt  und erst mal gar nicht heiraten will? Das Gespräch spitzt sich zu. Kein Problem, wiegelt Rama Burshtein zunächst ab, die Frau wird nicht verstoßen, aber von vielen schief angeschaut werden. Wie bitte, schief anschauen, ist das nicht erst recht respektlos? Nun platzt der Regisseurin der Kragen: „Ihre Fragen sind voreingenommen“, erregt sie sich, wir streiten uns jetzt, sie wird nicht müde zu argumentieren, schimpft darüber, dass sie bei allem internationalen Erfolg ihres Films außerhalb der Community selber schief angeschaut wird, auch von mir, lacht schon wieder, verabschiedet sich mit versöhnlichen Worten.

Ihren Mann, hatte sie freimütig berichtet, kann sie nur dann leidenschaftlich lieben, wenn er ihr überlegen ist. Wenn sie, die Powerfrau Rama Burshtein, ihn für noch stärker hält als sich selbst. Bei den anderen Frauen ihrer Gemeinde ist es genauso. Halten sich Gefühle an Regeln?

Ein Film, der Verständnis wecken will, eine Regisseurin, die unermüdlich zwischen den Welten vermittelt – und am Ende ist man einander fremder denn je.

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