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"Istanbul" von Orhan Pamuk: Auf der Suche nach der verlorenen Stadt

Poesie des Verfalls: Orhan Pamuk erinnert sich in seinem neuen Buch an das Istanbul seiner Kindheit

Wenn Schriftsteller Erinnerungsbücher schreiben, ist ihnen einerseits daran gelegen, sich ihren „Hort an Erinnerungen nicht wegnehmen“ (John Updike) zu lassen und selbst noch so wohlmeinenden Biografen zuvorzukommen. Andererseits wollen sie ein Werk von literarischem Gewicht verfassen, eines das Bestand über den Tod hinaus hat, und so widerlegen, dass „das Gefängnis der Zeit eine Kugel und ohne Ausweg ist“ (Vladimir Nabokov). Auch der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hat beides im Sinn gehabt, als er vor vier Jahren sein Erinnerungsbuch schrieb, um damit „durch mich über Istanbul und durch Istanbul über mich zu berichten“.

Subjektiver geht’s nicht, selbst wenn, wie es der Buchtitel verheißt, die Stadt Istanbul diese Erinnerungen bestimmt. Pamuk ist, wie er das zuletzt genauso erleichtert wie provozierend angekündigt hat, in diesem Buch so privat und unpolitisch, wie es im Fall von Istanbul und der Türkei eben nur geht – Schwierigkeiten, das umzusetzen, hatte er trotzdem, wie man sehen wird. Und natürlich hat Pamuk bezüglich Komposition, Stil und Stimmung auch hohe literarische Ansprüche. Er verfährt mit „Istanbul“ nach der Devise: „Das Erinnern ermöglicht das Leben, in dem es die Gegenwart mit dem Lichtschein der Vergangenheit umgibt.“

Pamuk schreibt über sein Istanbul, und in dieser Stadt gibt es zunächst keine Fundamentalisten und Kopftuchträgerinnen, auch keine junge, hippe, an westlichen Vorbildern orientierte Schickeria und Kunstszene. Und dieses Istanbul ist nicht die ständig wachsende Metropole mit inzwischen 15 Millionen Einwohnern. Pamuks Istanbul ist das der Fünfziger- und Sechzigerjahre, da der 1952 geborene Orhan in den Stadtvierteln Nisantasi und Cihangier aufwuchs und zur Schule ging. Es ist eine Stadt, die knapp eine Million Einwohner hat und in Pamuks Erinnerung nur aus den Farben Schwarz und Weiß besteht: ein halbdunkler, bleigrauer Ort mit Straßen aus Kopfsteinpflaster, Mietshäusern aus Beton und alten Holzhäusern, „die in einsamen Nebenstraßen von kümmerlichen Straßenfunzeln mehr schlecht als recht beleuchtet wurden“.

Vor allem aber ist Istanbul für Pamuk eine Stadt, die sich durch ein bestimmtes Gefühl auszeichnet: Melancholie. Dieses Gefühl ist eines der Leitmotive dieses Buches, es überführt die Erinnerung, so stellt sich Pamuk das vor, auch in die Gegenwart. In der speziellen Istanbuler Variante heißt dieses Gefühl „hüzün“. Es vereint die Stadt und ihre Bewohner und wird ausgelöst durch „Armut, Niederlagen und Verluste“, etwa den Niedergang des Osmanischen Reiches nach dem ersten Weltkrieg, dessen architektonische Überbleibsel gleichwohl im Stadtbild nicht zu übersehen sind. „hüzün“ erlebt man, wenn man einsam ist, doch wird es auch als Glück empfunden, da es ein gemeinschaftliches Erlebnis ist.

Pamuk erstellt eine ganze Liste der Momente, in denen sich „hüzün“ manifestiert, und er erklärt es in Folge detailliert mit den Schriften von Istanbuler Stadtschreibern und französischen Schriftstellern und Istanbulreisenden aus dem 19. Jahrhundert, wie Nerval, Gaultier und Flaubert, sowie mit den Stadtansichten des deutschen Historienmalers Anton Ignaz Melling. Pamuk macht das so erschöpfend, dass man bisweilen den Eindruck bekommt, er hätte nichts dagegen, Istanbuls führender lebender Stadthistoriker zu sein. Offenherzig vermittelt er, wie seine Erinnerungen an die Kindheit und an das Leben seiner großbürgerlichen Familie und damit sein zunächst bewusst subjektives Bild Istanbuls überformt worden sind durch die Lektüre fremder Autoren, zuerst der westlichen, dann der einheimischen. Gerade die Franzosen haben den Blick der Istanbuler auf ihre Stadt entscheidend mitbestimmt, einen Blick, der durch die „Melancholie des Verfalls“ dominiert wird.

Was durchaus ein Dilemma für die gebildeten Istanbuler ist: „Einerseits sind wegen des Europäisierungsprozesses der Türkei die Wertvorstellungen und das Urteil der westlichen Autoren für den Istanbuler Leser maßgebend geworden, andererseits verstimmt es gerade deswegen den Leser so sehr, wenn jene Autoren, deren Werk und Kultur zu kennen er sich rühmt, in irgendeiner Beziehung ,übertreiben’“. Doch dieses Dilemma ist auch ein produktives, versetzt es die Istanbuler doch in die Lage, die Vergangenheit „exotisch“ zu finden und gleichsam aus sich selbst herauszutreten und aus anderer Perspektive zu betrachten – gerade für Pamuk als Schriftsteller ein reizvolles Unterfangen. Umso besser kann er das Geflecht aus Verwestlichung und Nationalismus, aus Verfall und Dichtung in seine Bestandteile zerlegen und transparent machen. Istanbul ist für ihn etwas Besonderes – weniger die Stadt von heute, mehr die von damals, die von ihm literarisch stilisierte. Mit den Istanbuler Menschenmengen von heute und den Orten, an denen diese sich tummeln, hat Pamuk es nicht so: „Ich sehne mich nach den Zeiten zurück, als dort noch alles einsam und menschenleer war.“

Trotzdem ist Pamuk, das wird in diesen Erinnerungen deutlich, als lebenslanger Istanbuler eins und unten auch mit der Stadt von heute und mit ihren orientalischen Zügen sowieso – nur ist er eben ein türkischer Schriftsteller, der den Orient mit der bürgerlichen Bildung des Westens erklärt, der die Gedanken des Ostens zu poetisieren weiß, bevorzugt aber mit dem literarischen Instrumentarium des Westens. So ist er zum Liebling der Literaturwelt avanciert: einer von uns, ein Autor, dessen Denken und literarischen Vorbilder uns geläufig sind, den man sich nicht erst mühsam erschließen muss.

Sein Istanbulbuch macht da keine Ausnahme. Das umso mehr, da Pamuk genau in der Mitte seiner Erinnerungen einmal auch der vom Westen so gern umarmte politische Autor ist. Er schildert hier, was in zwei dunklen, von der türkischen Geschichtsschreibung gern verschwiegenen Septembertagen 1955 passiert ist. Ein von der Regierung angestachelter Mob wütete damals in Bezirken mit hohem griechischen Bevölkerungsanteil und „verwandelte Istanbul für alle Nichtmuslime in eine Hölle, die schlimmer war als ihr schlimmster orientalischer Alptraum“. Kurz darauf folgt ein Kapitel über Religion, das zwar privat ist. In dem Pamuk sich dann aber erst irritiert zeigt über die neuen, strenggläubigen Reichen, die aus der Provinz nach Istanbul gekommen sind. Und schließlich sein Befremden über die „verwestlichte Bourgeoisie Istanbuls“ äußert, die aus Gründen des Lebensstilerhalts und aus Furcht vor einem Zusammenschluss islamistischer Kreise mit den Provinzreichen noch jeden Militärputsch in der Türkei mitunterstützt hat.

An diesem Punkt hat Pamuk das Gefühl, „dass ich, anstatt von Religion als solcher zu sprechen, in das Fahrwasser des politischen Islams und der Staatsstreiche komme und damit die innere Harmonie dieses Buches beeinträchtigte“. Schnell kommt er also wieder zu seiner Familie, zu „hüzün“, Bosporus und dem Pittoresken der Stadt, und zu der Poesie, die er daraus gewinnt. Am Ende erzählt er, warum er sein Architekturstudium hinschmeißt, deswegen dauernd Streitereien mit seiner Mutter hat und diese ihn auf die nächtlichen Straßen treiben. Bei seiner Heimkehr verlangt es ihn dann jedes Mal, „aus der Atmosphäre der Straßen von Beyoglu heraus etwas zu produzieren“: Literatur. Aus dem kleinen Orhan, der geglaubt hat, irgendwo in der Stadt sitze „ein Ebenbild von mir“, ist ein Schriftsteller geworden. Und aus Pamuks Istanbul-Buch ein Entwicklungsroman, der ganz proustisch durchaus eine zweite Lektüre provoziert, so man sich denn noch tiefer in den großen Zusammenhang dieses erinnerten Lebens mit der erinnerten Stadt begeben will.

Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2006. 424 S., zahlreiche Abb., 25,90 €.

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