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Ivo Andrić: Pfeiler und Pfähler

Balkan-Klassiker: Ivo Andrićs Jahrhundertroman „Die Brücke über die Drina“ – frisch durchgesehen

Die Metapher vom Brückenbau zwischen den Kulturen wirkt oft sonntagsredenhaft. Nirgends wird sie erzählerisch so beglaubigt wie bei Ivo Andrić.

1892 geboren im bosnischen Travnik, verbrachte der Literaturnobelpreisträger von 1961 seine frühen Jahre im bosnischen Višegrad mit Blick auf das Bauwerk, das ihn zu seinem berühmtesten Werk inspirierte. Die 1571 fertiggestellte Brücke war mit ihren 180 Metern und elf Bögen jahrhundertelang der einzige Übergang am oberen und mittleren Lauf der Drina, ein Bindeglied auf der Handelsstrecke zwischen Sarajevo und Konstantinopel, eine Schnittstelle der Kulturen. Hier begegneten sich islamische und christliche Welt, hier stießen die Imperien der Habsburger und der Osmanen aufeinander.

„Die Brücke über die Drina“ bietet ein großes menschliches und historisches Panorama. Was der Moderne zum Problem wurde, die Totalität einer Welt noch überzeugend im Rahmen eines Romans abzubilden, gelingt Andrić mit einem ingeniösen Kunstgriff: Er führt vier mitteleuropäische Jahrhunderte durch das Nadelöhr seiner Drina-Brücke. Alles was in diesem Buch geschieht – und es geschieht viel –, ist bezogen auf dieses Bauwerk: Szenen des historischen Umbruchs, Episoden aus dem Alltagsleben, Legenden und Liebesdramen.

Mögen Reiche aufsteigen und niedergehen – die Brücke steht unverrückbar da, ein Symbol der Beständigkeit. Mögen die reißenden Hochwasser der Drina die halbe Stadt zerstören, sie taucht aus der Flut wieder auf und ihre weißen Bögen leuchten wie frisch poliert in der Sonne. Die Hochwasser lassen Muslime, Christen und Juden zusammenrücken. Die Erinnerung daran, wie man vergangenes Unheil mit vereinten Kräften bestanden hat, gehört zu den wichtigsten Stützpfeilern einer gemeinsamen Identität. Das ist die Psychologie der Katastrophe.

Andrić stellt etwa hundert Figuren auf die Bühne seiner Brücke, alle plastisch und psychologisch eindringlich geschildert. Er ist ein realistischer Erzähler, geschult an Tolstoi und Thomas Mann – und doch nehmen sich seine balkanischen Geschichten zwischen Orient und Okzident heute oft fantastisch aus. Bisweilen will sich geradezu ein 1001-Nacht-Gefühl einschleichen. Wenn sich eben nicht immer wieder der Realist mit verstörenden Details zu Wort melden würde. Berühmt sind jene drei Seiten, die in allen grässlichen Einzelheiten beschreiben, wie ein „Saboteur“ des Brückenbaus gepfählt wird – wer das gelesen hat, wird es nicht mehr vergessen.

Dieser Roman gehört in die Reihe jener Großwerke, die sich mit den letzten Jahrzehnten der Donaumonarchie beschäftigen, wie die Romane Joseph Roths oder Robert Musils. Hier dreht sich allerdings die Perspektive: aus der Sicht der Kolonisierten wird die Besetzung Bosniens geschildert. 1878 endet der osmanische Schlendrian; der Fortschritt macht sich geltend, Handwerker, Händler, Hoteliers bekommen zu tun, österreichische Ingenieure sorgen für Straßen, Wasserleitungen und Eisenbahnverbindungen.

Anfang des 20. Jahrhunderts setzen mit der Entfesselung des serbischen Nationalismus, den Annexionskrisen und Balkankriegen ethnische Verfolgungen ein. Wenn die Umstände danach sind, werden aus geschätzten Mitbürgern schnell schlachtreife Sündenböcke. Es ist eine Urangst im bosnischen Zusammenleben, die regelmäßig die Seiten wechselt. Nach den serbischen Siegen der Jahre 1912/13 weichen die osmanische Macht und die türkische Grenze, die gerade noch fünfzehn Kilometer vor der Stadt gelegen hat, um 1000 Kilometer zurück – „gleich einer fantastischen Ebbe“, die die türkischen Enklaven „wie Meerespflanzen auf dem Trockenen“ zurücklässt. Nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo werden wiederum die Serben vogelfrei. Bald stehen Galgen auf dem Markt gegenüber. Andrić analysiert die Massenpsychologie der Verfolgung – und schildert in atmosphärischen Details eine Stadt im Ausnahmezustand. Der Roman läuft zu auf den Kriegsausbruch und die Sprengung des Mittelteils der Brücke.

Vierzig Kilometer entfernt von Višegrad liegt Srebrenica. Man kann den Roman, der zum 50. Jahrestag des Nobelpreises in revidierter Übersetzung erschienen ist, kaum lesen, ohne an den Bürgerkrieg der neunziger Jahre zu denken, in denen der Fluss zum Massengrab wurde. Die Konflikte, die damals wieder aufbrachen, werden hier in ihren Wurzeln erkennbar. Als muslimische Extremisten 1992 das Andric-Denkmal an der Brücke über die Drina in die Luft sprengten, hatten sie immerhin begriffen, dass dieser pessimistische Humanist nicht für Nationalismus und Fanatismus in Anspruch zu nehmen ist. Der fast klassische Ton seiner Prosa überwölbt die historisch-politischen Schlammfluten ebenso wie die fest gemauerten Bögen der Drina-Brücke.

Ivo Andrić: Die Brücke über die Drina. Roman. Aus dem Serbischen von Ernst E. Jonas, überarbeitet von Katharina Wolf-Grießhaber. Zsolnay, Wien 2011. 496 Seiten, 25,90 €.

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