zum Hauptinhalt
Er traut sich was. Der Schriftsteller Jakob Nolte, geboren 1988.

© Rachel Israela

Jakob Noltes Roman „Schreckliche Gewalten“: Spektakel muss sein

In den Weinbergen der Utopie und den Abgründen des Trash: Jakob Noltes genial absonderlicher Roman „Schreckliche Gewalten“ verweigert Erzählkonventionen.

Je weiter er sich von seiner Heimatstadt entfernte, desto mehr verschachtelte sich alles“, heißt es über Edvard   Honik, eine der beiden Hauptfiguren in Jakob Noltes zweitem Roman „Schreckliche Gewalten“. Ein deutlicher, irgendwie auch beruhigender Verweis auf Noltes Erzählprinzip, deutet dieser Satz doch darauf hin, dass das irrwitzige Hakenschlagen dieser 340 Seiten durchaus einer inneren Logik folgt.

Allein der Anfang! Es ist das Jahr 1973. Eines Nachts verwandelt sich in der Nähe der norwegischen Stadt Bergen Hilma Honik in einen Werwolf, zerfleischt ihren Ehemann und lässt ihre zwanzigjährigen Zwillinge Iselin und Edvard zurück. Nun elternlos, begibt sich Edvard auf eine Selbst- und Sinnsuche, die ihn über Litauen, Lettland und die Ukraine bis nach Afghanistan führt. In Riga bändelt er mit Simon an; sie gründen die Straßenbande „Switchblade Belarus“ und landen schließlich in den „Weinbergen der Utopie“, umringt von einer polyamourösen Hippiekommune. Iselin bleibt in Bergen und gründet ebenfalls eine Gruppe, eine Terrorgruppe, die „Mädchen im System“; später plant sie eine Flugzeugentführung unter dem Namen „Operation Romantischer September“ und dem Kommando ihrer Geliebten Moira. Wobei Letztere, wie der Autor in einer 43-seitigen Klammer erklärt, in ihrem früheren Leben Laborpraktikantin in dem Krankenhaus war, in dem Hilma Honiks Blut untersucht wurde. Ach ja, und in Moiras Brustkorb wohnt anstelle ihres Herzens eine bösartige Spinne.

Nachvollziehbares Handeln darf niemand erwarten

Hat da jemand zu viel Horror- und Trashfilme geguckt? Oder folgen wir den ausgeklügelten Finten eines hochbegabten Schriftstellers? „Schreckliche Gewalten“ lässt das erfreulich offen. Chronologische Erzählweise, psychologisch motivierte Figuren und nachvollziehbares Handeln darf bei der Lektüre niemand erwarten. Lässt man sich allerdings von Noltes Neigung zum Spektakel abschrecken, zu schweigen von den vielen Abschweifungen und Einschüben (gäbe es Fußnoten, würde das Buch zu gut zwei Dritteln aus Marginalien bestehen), bringt man sich um einen literarischen Spaß, der in seinen besten Momenten an Thomas Pynchon oder David Foster Wallace erinnert. Ein Exkurs über den Erfinder des ACE-Drinks führt zum Polarstern, die Himmelskörper zum Ökosystem der Insel Jomfruland, die Patentrilogie zur Etymologie des Wortes „benedeien“ und von dort zu Benedikte, die in Riga ein Treffen systemkritischer Denker organisiert, bei dem sich auch Edvard blicken lässt. Diese Verästelungen zerfasern zwar den Plot, jedoch bettet Nolte seine Helden immer wieder ins Weltgeschehen ein, ja sogar ins Universale.

„Benedikte war die Tochter ihrer Mutter und ein Kind ihres Vaters“ – mit derlei trivialem Nonsens parodiert Nolte munter über sämtliche Sprachregister hinweg. In einem Absatz mischt er hingerotzte Alltagssprache („Du bist halt mega stehengeblieben“), seltsam-morbide Poesie und gestelzte Floskeln, die im Nachklapp ihre eigene Verlogenheit entlarven: „Ihr müsst unbedingt etwas von diesem Stück des Fleischs probieren. Es schmeckt völlig wie all die anderen Stücke Fleisch, die ich jemals gegessen habe, und trotzdem möchte ich es erwähnen, um klarzumachen, dass ich diese Diskussion hiermit für beendet erkläre.“

Flotte Dreier, die in einem Gemetzel enden

Zugegeben: Manche Sprachspielereien wirken sehr selbstverliebt. Aber ohne solche narzisstischen Auswüchse gäbe es eben die herrlich absurden Vergleiche nicht, die Nolte beispielsweise zwischen Büstenhaltern und der Erwerbsarbeit zieht: „Es gibt diese Brüste nicht, genauso wie es diese Arbeit nicht gibt, die uns das Metier verspricht. Der BH und das Metier sind Massenmedien und daher abzulehnen.“ Oder all jene sinnentleerten Dialoge à la Quentin Tarantino, die das Buch nicht zuletzt zu einer literarischen Tour de Force machen: flotte Dreier, die in einem Gemetzel enden, RAF-Anschläge, Sowjetdiktatur, japanische Terroristen, der Stellvertreterkrieg in Angola, mordlustige Elche, die im Blut argloser Jäger baden.

Diese krude Mischung aus Wikipedia-Wissen und Splatter-Fantasien beinhaltet zugleich eine Geschichte der Gewalt, die sich vom Zweiten Weltkrieg bis in die siebziger Jahre spannt. Letztendlich spitzt sich alles zu in jenen luziden Augenblicken, in denen Noltes Figuren „die Umrisse ihrer Bestialität“ erhaschen – oder was sie dafür halten mögen.

So ist auch Hilma Honik überzeugt, was sie in jener mörderischen Vollmondnacht ritt, sei keineswegs Tollwut oder Jähzorn gewesen, sondern vielmehr eine „irre Vernunft“. Ob eitle Pose oder raffinierte Verweigerung sämtlicher Erzählkonventionen – Jakob Noltes Roman „Schreckliche Gewalten“ ist eine Zumutung im besten Sinne, gleichermaßen genial wie durchgeknallt. Hier traut sich jemand was.

Jakob Nolte: Schreckliche Gewalten. Roman. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 340 Seiten, 22 €.

Anja Kümmel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false