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Kultur: James Nachtwey im Interview: "Ich bin unwichtig. Meine Bilder zählen"

Mister Nachtwey, wann haben Sie das letzte Mal ein Foto geschossen?Im Februar, in Ruanda.

Mister Nachtwey, wann haben Sie das letzte Mal ein Foto geschossen?

Im Februar, in Ruanda. Ich habe an einer Geschichte über die Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen und ihren Müttern gearbeitet und in einem Krankenhaus fotografiert. Was ich dort gesehen habe, war ein Kind, das tot geboren wurde. Danach habe ich nicht mehr fotografiert, sondern an meinem neuen Buch gearbeitet. Es dokumentiert Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die von 1990 bis 1999 geschehen sind, und heißt "Inferno".

Waren Sie schon häufiger in Ruanda?

Nein, nicht häufig. 1994 war ich da. Zu Zeiten des Genozids.

Haben Sie immer eine Kamera dabei, wenn Sie das Haus verlassen?

Nein, nie. Ich bin nur deshalb Fotograf geworden, weil ich soziale Konflikte beschreiben möchte.

Das Bild, das sich die Öffentlichkeit von einem Kriegsfotografen macht, sieht anders aus: Ein einsamer Held, der in einer Tarnjacke seinen Storys hinterherjagt.

Ich bin kein Jäger. Mir geht es mehr um eine Haltung. Ich glaube, dass ich einen wichtigen sozialen Auftrag erfülle, im Dienst der Öffentlichkeit.

In den letzten zwanzig Jahren gab es kein Krisengebiet, das Sie nicht fotografiert haben. Arbeiten Sie immer im Auftrag eines Magazins oder auch auf eigene Faust?

Fast alle Geschichten entwickle ich selbstständig. Danach gehe ich zu Magazinen und bespreche das Thema. Hauptsächlich mit dem "Time Magazine", manchmal aber auch mit dem "Stern". Meistens kann ich sie überzeugen, die Geschichte zu bringen. Manchmal sind sie aber auch gar nicht interessiert. Dann mache ich mich auf eigenes Risiko auf den Weg und versuche später, das Material zu veröffentlichen.

Wann beginnen Sie sich für ein Thema zu interessieren?

Das ist unterschiedlich. Manchmal lese ich eine Meldung in einer Zeitung oder höre etwas im Radio. Dann setze ich mich in die Bibliothek und recherchiere die Hintergründe. Manchmal beschäftige ich auch einen Rechercheur. Oft bleibt mir dafür allerdings keine Zeit. Geschichte wartet nicht. Man muss sich sofort auf den Weg machen, um vor Ort zu sein, wenn es passiert. Die Recherche findet im Feld statt.

Wenn Sie zurückkehren, bringen Sie Fotos mit, die schon Wochen alt sind. Kann die Reportagefotografie gegen die schnellere Konkurrenz von Fernsehen und Internet bestehen?

Geschwindigkeit ist nicht immer das Wichtigste. Im Fall eines aktuellen Ereignisses ist das Internet sicher schneller. Aber ich arbeite auf einer anderen, tieferen Ebene. Mit einem persönlicheren Zugang. Und wenn es sich um einen langfristigen Prozess handelt, muss ich nicht der Erste sein.

Sie sind nach Ruanda, nach Afghanistan, nach Somalia gefahren, als niemand sonst es tat.

Das ist wahr. Ich will nicht nur einen Krieg fotografieren, sondern auch seine Folgen. Sobald eine Geschichte keinen Nachrichtenwert mehr besitzt, bin ich allein.

Wieviele Kriege haben sie schon erlebt?

Ich habe sie nicht gezählt. Viele, seit 1981.

Mussten Sie je um Ihr Leben fürchten?

Ich war in einer Menge Situationen, in denen mein Leben in Gefahr war.

Zum Beispiel?

Sie möchten, dass ich Ihnen eine Kriegsgeschichte erzähle? Ich weiß nicht. Ich wurde in Gefechte verwickelt, in denen Menschen, so nahe wie Sie jetzt neben mir sitzen, von einer Kugel getroffen und getötet wurden. Auf mich wurde geschossen, wurden Raketen abgefeuert und Bomben abgeworfen - wie Sie sich vorstellen können, wenn es um Krieg geht. Ich bin in Hinterhalte geraten, musste Minenfelder durchqueren. Immer wieder ist sowas passiert.

Haben Sie Angst gehabt?

Ich weiß genau, was geschehen kann. Ich bin mir der Folgen sehr bewusst und glaube nicht, dass mich irgendetwas schützen würde. Man muss sehr aufmerksam sein und sehen, was um einen herum vorgeht, um im richtigen Moment die richtige Entscheidung zu treffen. Es ist eine ständige Gratwanderung zwischen Überleben und einen Job erledigen - ihn gut erledigen, effektiv. Denn wenn meine Arbeit nicht effektiv ist, gibt es keinen Grund, dass ich überhaupt da bin.

Sie brauchen auch Glück?

Es kann ganz hilfreich sein. Kriegsreporter bewegen sich durch eine Umwelt, die geschaffen wurde, um zu töten und zu zerstören. Wer in sie eindringt, kann selbst zerstört werden. Ohne vorherige Warnung.

Kriegsfotografen gelten als Zyniker. Sie haben viel Leid, Terror und Angst gesehen: Hat Sie das abgestumpft?

Zynisch wäre, aufzugeben, weil man glaubt, nichts auszurichten. Das wäre so einfach. Kriegsreporter, die kontinuierlich Einfluss zu nehmen versuchen, sind alles andere als abgebrühte Cowboys.

Sollen Ihre Fotos die Welt verbessern?

Meine Bilder allein können nichts bewirken. Aber sie sind ein Beitrag zu dem Bemühen von vielen anderen Menschen. Die öffentliche Meinung kann Druck auf die politischen Entscheidungsträger ausüben, um Missständen abzuhelfen. Meine Aufgabe ist es, für eine Sensibilisierung zu sorgen.

Lohnt es sich, dafür sein Leben zu riskieren?

Ich habe es sehr oft getan. Also sollte meine Antwort, nehme ich an, lauten: Ja.

Weckt ständig präsente Gewalt nicht das Bedürfnis, sich emotional abzuschotten?

Im Gegenteil. Ich muss mich emotional öffnen, wenn ich mich dem Leiden einer vom Krieg heimgesuchten Bevölkerung aussetze. Andernfalls werde ich kein eindrucksvolles Bild aufnehmen können. Ich möchte die Leute mit meinen Fotos bewegen, also muss ich selbst empfänglich sein. Meine Gefühle müssen in Bilder umgeleitet werden.

Können Sie nach Ihren Reportagen nachts noch schlafen?

Ja, weil ich völlig erschöpft bin.

Muss man kaltblütig sein, um ein gutes Foto zu machen?

"Kaltblütig" ist nicht der angemessene Ausdruck. Meine Arbeit erfordert Disziplin, Training, einen Sinn für das Wesentliche. Um ein berührendes Foto zu schießen, muss man sich selbst, seine Ängste und visuellen Instinkte kontrollieren können. Es würde keinem Fotografen nützen, vor dem Grauen zurückzuschrecken und zu sagen: Das kann ich nicht mitansehen. Ich muss mit Dingen umgehen, die mir unangehm sind, die mich wütend oder sehr traurig machen. Stellen Sie sich vor, ein Arzt würde sich angeekelt vor einem Verletzten abwenden. Es ist auch für ihn schlimm, aber er weiß, warum er es tun muss.

Hat Ihre Arbeit Sie verändert?

Natürlich.

Auf welche Weise?

Ich weiß nicht mehr, was für ein Mensch ich mit 20 gewesen bin. Deshalb fällt es mir schwer, die Veränderung zu beschreiben. Aber meine Wertschätzung des Lebens, einzelner Menschen und was sie durchmachen, ist seither gewiss enorm gestiegen. Auch weiß ich heute, wie stark Menschen im Angesicht schlimmster Verluste sein können, mit welcher Kraft sie ihr Leben fortsetzen und sich um ihre Familie kümmern.

Sie wollten zunächst Jurist werden und arbeiteten als Matrose bei der Handelsmarine. Warum haben Sie sich dann entschlossen, Reporter zu werden?

Ich wurde durch die Arbeiten von Fotografen wie Larry Burrows, Don McCullen oder Eugene Smith beeinflusst und all den anonymen Reportern, deren Bilder aus dem Vietnamkrieg großen Eindruck machten - auf das Land und auf mich. Während die politische und militärische Führung der USA uns nur eine Sicht der Dinge gewährten, zeigten diese Bilder die Wirklichkeit des Krieges. Es waren dokumentarische Aufnahmen, die zu einer Form des Protests wurden.

Was war das erste Bild, das sie verkauft haben?

Ich verkaufe meine Bilder nicht - sie werden veröffentlicht. Mich interessiert nicht kommerzieller Erfolg, sondern Kommunikation. Aber um Ihre Frage zu beantworten: An das erste veröffentlichte Bild erinnere ich mich nicht mehr.

Ihre erste Station war eine Zeitung an der mexikanischen Grenze.

Ich war von 1976 bis 1980 für eine Zeitung in New Mexico beschäftigt. Das war eine Art Ausbildung, die ich mir auferlegt hatte. Ich wollte lernen, unter Zeitdruck zu arbeiten, bevor ich über schwierigere, internationale Ereignisse berichtete. Ich wollte etwas anzubieten haben - eine Qualifikation.

Dann kam Ihr erster Bürgerkrieg: Sie gingen 1981 nach Belfast.

Damals war ich neu und hatte keinerlei Renomee als Kriegsfotograf. Die Bilder, die ich in Belfast machte, wurden überall gedruckt und öffneten mir viele Türen. Es war ein Karriere-Start.

Seit 1986 sind Sie Mitglied der Agentur Magnum. Sehen Sie sich da in einer Tradition?

Ja. Meine Fotos setzen das fort, was Robert Capa begonnen hat. Aber heute gibt es selbst bei Magnum kaum noch Fotografen, die dasselbe machen wie ich.

Eines ihrer berühmtesten Fotos zeigt einen jungen Hutu, dessen Kopf von Machetenhieben gezeichnet ist. Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?

Nein. Ein Jahr nach den Aufnahmen habe ich versucht, ihn wiederzufinden. Aber ich konnte ihn nirgendwo auftreiben. Ich fragte bei Hilfsorganisationen nach, aber niemand konnte seine Spur ausfindig machen. Ich wusste seinen Namen, den ich mir auf einem Zettel notiert hatte. Außerdem hätten ihn seine auffälligen Narben identifiziert. Trotzdem war er verschwunden.

Ist es schwer mit den Leuten in Kontakt zu bleiben, die sie fotografiert haben?

Es ist nahezu unmöglich. Das ist der Preis dafür, ein ausländischer Journalist zu sein.

Haben Sie Szenen erlebt, die zu grausam waren, um sie zu fotografieren?

Ich war Zeuge von extrem grausamen Dingen, die ich lieber nicht gesehen hätte. Aber ich glaube, ich wäre meiner Pflicht nicht nachgekommen, wenn ich sie nicht fotografiert hätte. Deshalb war ich ja da. Es wäre falsch, meine eigene Arbeit zu zensieren, weil sie mir Albträume bereitet. Meine Abscheu muss ich für mich behalten - und später bewältigen. Ich selber bin nicht wichtig. Was zählt, sind die Bilder.

Glauben Sie noch an das Gute im Menschen?

In jedem von uns gibt es einander bekämpfende Kräfte. Das ist die Realität. Weil es böse Seiten in uns gibt. Das heißt aber nicht, dass ich den Glauben and das Gute in uns verloren hätte. Ich versuche, ständig daran zu appellieren - das Unakzeptable nicht hinzunehmen. Den Sinn für den Unterschied von guten und schlechten Eigenschaften zu stärken. Und die Bereitschaft nicht zu verlieren, sich mit anderen zu identifizieren. Das sind die besten menschlichen Instinkte. Meine Bilder versuchen, sie zu wecken.

Wo werden Sie Ihre nächsten Fotos machen?

Ich rede nicht über Bilder, die ich noch nicht gemacht habe.

Mister Nachtwey[wann haben Sie das letzte Mal ein]

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