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Die Karawane muss weiterziehen. Nomadenfamilie im heutigen Belutschistan.

© Ullstein – Prisma/Blum Bruno

Jamil Ahmad: Überleben ist die höchste Tugend

Vom blutigen Entstehen der Zivilisation: Jamil Ahmads meisterhafter Erzählungsreigen „Der Weg des Falken“, der ins Niemandsland zwischen Pakistan, dem Iran und Afghanistan führt.

Von Gregor Dotzauer

Es gibt zwei Arten, der stillen Wucht von Jamil Ahmads Geschichten zu verfallen. Die eine braucht nicht mehr als die Bereitschaft, sich der halluzinatorischen Klarheit seiner Sätze hinzugeben, die mit rhythmischer Präzision und kargen Worten die unerbittliche Einsamkeit der Wüstenwelt zwischen Pakistan, dem Iran und Afghanistan erstehen lassen. Staub und Hitze flirren durch dieses Niemandsland, dem konkurrierende Nomadenstämme ein Leben abtrotzen. Die gleißende Gleichförmigkeit der Farben trügt, denn Sand und Erde leuchten in „tausend Schattierungen von Grau und Braun“, wenn man nur genau hinsieht.

Die andere verlangt danach, einen kleinen Schritt über das Geschehen hinauszudenken, das in neun lose verbundenen Erzählungen ausgebreitet wird. „Der Weg des Falken“ (The Wandering Falcon) ist nämlich zugleich ein philosophischer Reigen über den blutigen Prozess der Zivilisation: eine Untersuchung über die historische Bedingtheit von Gewissen, Moral und Recht. Sie beginnt mit einem Paar auf der Flucht vor seinem Stamm, den Siapahd. Die Frau ist vor ihrem Ehemann davongelaufen und hat mit ihrem Liebhaber ein Kind gezeugt. Als die drei nach Jahren aufgespürt werden, erschießt er sie, um ihr die Hinrichtung zu ersparen. Er selbst wird gleich darauf gesteinigt; am Leben bleibt allein der fünfjährige Sohn.

Jamil Ahmad agiert als allwissender Erzähler, aber nicht als besserwisserischer – und vor allem: als ungewöhnlich diskreter. Er spricht nicht offen aus, dass der Grund für die Flucht der Frau die Impotenz des Gatten war. Er schildert nur, wie dieser, vom eigenen Häuptling unmissverständlich damit konfrontiert, seine Ehre mit dem Schwert gegen die bittere Wahrheit verteidigt. Ahmads besonderer Kunstgriff aber besteht darin, dem Leser nicht auf die Nase zu binden, dass die Kontinuität zwischen den einzelnen Geschichten der überlebende Junge stiftet. Als eine Art displaced person, mal Neben-, oft sogar bloß Randfigur, wandert er durch dieses Buch und bekommt überhaupt erst im zweiten Drittel einen Namen: Tor Baz, der Schwarze Falke. Die Pflegeeltern werden ihn nach ihrem getöteten Sohn so nennen.

Aus der Spannung von zurückhaltendem und zupackendem Erzählen bezieht „Der Weg des Falken“ seine Wirkung. Aus dem Zusammenprall von archaischen und modernen Werten entsteht sein denkerisches Abenteuer. Ahmad macht kein Hehl daraus, dass er Stammesdisziplin und Blutrache nicht als Alternativen zu Staatlichkeit und Gewaltenteilung betrachtet. Aber er erzählt mit einem bestechenden Sinn für die Schlüssigkeit beider Weltentwürfe, welche Verluste dem Gewinn bürgerlicher Rechte gegenüberstehen. Und er zeigt, wie die neue Logik, die an die Stelle regionaler Traditionen universale Werte setzen will, sich letztlich auch nur mit Gewalt behaupten kann.

Wie anders soll man etwa den verfeindeten Stämmen der Wazirs und der Mahsuds, der räuberischen „Wölfe von Waziristan“, den Respekt vor fremdem Eigentum beibringen? „Die Natur hat in beiden einen ungewöhnlichen Vorrat an Zorn, eine gewaltige Zähigkeit und eine absolut fehlende Bereitschaft, sich mit ihrem Los abzufinden, herangezüchtet. Wenn die Natur sie lediglich mit Nahrung für zehn Tage im Jahr versorgt, glauben sie ein Recht darauf zu haben, den Rest ihres Lebensunterhalts von ihren Mitmenschen einzufordern, die ein fettes, gemästetes und behagliches Leben in der Ebene führen. Beiden Stämmen gilt die Fähigkeit zu überleben als höchste Tugend. In keiner von beiden Gemeinschaften haftet einem gedungenen Mörder, einem Dieb, einem Entführer oder einem Spitzel der geringste Makel an.“

Ahmads Erzählung verläuft genau zwischen Zeugenschaft und Imagination

Und was ist die Richtschnur tugendhaften Verhaltens? Das Gewissen kann es nicht sein. Die Distriktbeamten, klagt ein Belutsche in einer anderen Geschichte seinem halb erblindeten sardar, dem Anführer, „entschieden sich dafür, den Häuptling unseres Bruderstammes abzusetzen und zu verhaften. Das Recht, Häuptlinge einzusetzen und abzusetzen, räumen wir uns nur selbst ein. Wir erkennen niemandes Macht an, zu entscheiden, wer unser Häuptling sein oder nicht sein soll.“ Aus dieser „Gewissensfrage“ leitet er sein Widerstandsrecht ab.

Der sardar hält ihm das Fragwürdige der Begründung vor: „Was für ein Führer ist das Gewissen schon, wenn es den bösen Mann nicht weniger bereitwillig in seinen Bemühungen ermutigt als einen anderen, der gegen das Unrecht kämpft! Das Gewissen ist wie ein armer Verwandter, der in eines reichen Mannes Hause wohnt. Es muss zu allem gute Miene machen aus Angst hinausgeworfen zu werden.“

Jamil Ahmad erinnert an eine Zeit des Umbruchs, deren Beginn er auf den Herbst des Jahres 1958 datiert. Damals erklärten die pakistanische und die afghanische Regierung, nachdem es ihnen die Sowjets vorgemacht hatten, den umherziehenden pawindahs den Krieg. Seither verletzen ihre Karawanen ständig staatliche Grenzen, und es gehört zu den eindringlichsten Szenen des Buches, als eine Frau drei Dutzend Kamele an Soldaten vorbei zur Tränke führen will, obwohl die sie nicht passieren lassen wollen. „Ich gehe mit einem Koran auf dem Kopf“, erklärt sie wild entschlossen, „so kann mir nicht geschehen.“ Im Kugelhagel sterben der sie begleitende Ehemann, Frauen und Kinder sowie sämtliche Tiere.

Ahmad, 1931 in Jalandhar, einem Zentrum des britisch-indischen Pandschab geboren, bevor die Region 1947 zwischen Indien und Pakistan aufgeteilt wurde, weiß, wovon er erzählt. Denn „Der Weg des Falken“ verläuft genau zwischen Zeugenschaft und Imagination. Zugunsten einiger schlicht Informationen referierender Passagen gerät diese heikle Balance zwar gelegentlich ins Kippen, macht Ahmads Unternehmen aber nicht weniger stark.

1954 trat er in die Dienste des pakistanischen Staats ein. Nachdem er sich schon als Schüler für Stammeskulturen in aller Welt interessiert hatte, nahm er 1956 mit Begeisterung den Auftrag an, in der Provinz Belutschistan zwischen Regierungs- und Stammesinteressen zu vermitteln. Im Lauf der Jahre lernte er die Grenzgebiete des nordwestlichen Pakistan zwischen dem Iran und Afghanistan immer besser kennen. Er war in mehreren Provinzen stationiert, darunter im Swat-Distrikt, der heute von den Taliban beherrscht wird. Er mochte diese Arbeit, denn sie fand in herrlicher autoritätsferner Einsamkeit statt. Seine aus dem oberbayerischen Traunstein stammende Frau Helga, die er in London kennengelernt hatte, war es, die ihn zum Schreiben über seine Erfahrungen ermunterte.

Die ersten Fassungen der Geschichten liegen vier Jahrzehnte zurück. Sie entstanden, bevor er während des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan Minister in Kabuls pakistanische Botschaft war, und sie wären womöglich in der Schublade verstaubt, wenn nicht Jamil Ahmads jüngerer Bruder Javed darauf gedrängt hätte, sie 2008 beim pakistanischen Kurzgeschichtenwettbewerb „Life’s Too Short“ einzureichen. Das Einsendedatum war zwar überschritten, doch die Mitorganisatorin Faiza S. Khan reichte die Texte in ihrer Begeisterung an Penguin Books India weiter, wo ihre Qualitäten sofort erkannt wurden.

Das unverwüstliche Geschäftsmodell der Entführung

„Der Weg des Falken“ ist nun Jamil Ahmads erstes Buch geworden – und mit seinen mittlerweile 82 Jahren vermutlich auch sein letztes. Die kolonialen Befreiungskämpfe und Tragödien eines ganzen Jahrhunderts sind darin aufgehoben – und die handfesten Gespenster, die sie uns bis in die unmittelbare Gegenwart bescheren.

Bei Ahmad, der heute in Islamabad zu Hause ist, begreift man, wie viel List und Tücke es brauchen kann, in ethnisch zerrissenen Regionen so etwas wie stabile Zwietracht herzustellen. Genial der Coup, mit dem ein alter Mullah ein Lager von Aufständischen mit dem Versprechen von 50 000 Gold-Sovereigns der britischen Regierung besänftigt, um mit dem Geld dann selber zu verschwinden. Der Friedensstifter gilt als so unbestechlich und vertrauenswürdig, dass die Zurückgebliebenen sich nur untereinander des Betrugs verdächtigen können.

Von unverwüstlicher Aktualität ist das Geschäftsmodell Entführung, das zu den Spezialitäten von Wazirs und Mahsuds gehört. Ahmad berichtet von einem Fall, in dem die pakistanischen political agents den verfeindeten Stämmen die Auslösung der Geiseln aus den wazirischen Händen übertragen: Sie sollen einander bei der Transaktion überwachen. Die Lösegeldverhandlungen werden ein einziges großes Fest auf Kosten des Staates.

„Der Weg des Falken“ blättert eine Fülle solcher Szenen auf: einige davon skurril, manche brutal – und viele beides zugleich. Jamil Ahmads Geschichten leben aber auch von einer herzerwärmenden Poesie. In der „Ehe der Shah Zarina“ kommt alles drei zusammen.

Man begegnet darin einem Familienwanderzirkus, bestehend aus einem Bären, seinem Dompteur und dessen Frau. Gemeinsam ziehen die drei jahrelang durch die Dörfer. Tagsüber darf sie das gemietete Zimmer bewohnen, nachts muss sie es für den Bären räumen. Wütend über das immergleiche Spiel, beschwert sie sich schließlich bei ihrem Mann. Der sagt ihr nur ins Gesicht: „Eine andere Frau finde ich jederzeit, einen anderen Bären nicht.“ Auch dieser Logik kann man sich schwer entziehen.

Jamil Ahmad: Der Weg des Falken. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hoffmann und Campe, Hamburg 2013. 189 S., 19,99 €.

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