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Kultur: Japan: Der Koizumi-Effekt

"Was halten Sie von Koizumis Plan, den Ministerpräsidenten in Zukunft direkt wählen zu lassen?" - Seit fünfzehn Jahren lebe ich in Japan, aber jetzt habe ich es zum ersten Mal erlebt, dass ein Taxifahrer mit mir über Politik reden wollte.

"Was halten Sie von Koizumis Plan, den Ministerpräsidenten in Zukunft direkt wählen zu lassen?" - Seit fünfzehn Jahren lebe ich in Japan, aber jetzt habe ich es zum ersten Mal erlebt, dass ein Taxifahrer mit mir über Politik reden wollte. Seit der Wahl Junichiro Koizumis zum Ministerpräsidenten vor drei Monaten ist Politik in Japan populär. Die Einschaltquoten bei Übertragungen aus dem Parlament sind hoch, und in den nachmittäglichen Talkshows wird über die Kabinettsmitglieder und deren Arbeit getratscht und diskutiert wie bislang nur über Fotomodelle und deren Affären.

Was hat sich geändert? So neu und überraschend sind Koizumis Vorhaben durchaus nicht. Völlig überraschend aber ist seine Sprache, mit der dieser mit 59 Jahren für Japans gerontokratische Politikerkaste schockierend junge Premier seine Pläne vorstellt und verteidigt. Schon in seiner Antrittsrede pflegte Koizumi einen alltäglichen Umgangston, der von jedermann im Lande verstanden wird. Und das bedeutet in Japan eine Kulturrevolution, vergleichbar Luthers Bibelübersetzung in die Volkssprache oder der späteren Umstellung der katholischen Messe vom Lateinischen aufs Deutsche. Koizumi also beginnt die von ihm angekündigten politischen Strukturreformen mit einer Sprachreform.

"Es ist die Lage, dass daran gedacht wird, die Überprüfung der Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten offen angehen zu wollen" (maemuki kento shite ikitai to kangaeru shidai de gozaimasu). So ungefähr lautet eine wörtliche Übersetzung der bislang üblichen Politikersprache. Bei Koizumi heißt es einfach: "Ich denke, die Einführung der Direktwahl ist wünschenswert."

In englischen Übersetzungen, die üblicherweise das Bild Japans in Europa und Amerika prägen, tritt dieser Unterschied nicht zutage, da sie den Inhalt des Gesagten wiedergeben, doch den Sprachgestus, die Wahl der Wendungen, die jeweilige Respekt- und Referenzebene herausfiltern. Dies ist besonders misslich, da das Japanische - in viel grösserem Ausmass als die europäischen Sprachen - die Möglichkeit bietet, ein und denselben Sachverhalt in sehr vielen, deutlich voneinander unterschiedenen Formen auszudrücken.

Japanische Politiker befleissigen sich im Parlament bislang einer Ausdrucksweise, die sich für die meisten Japaner wie Chinesisch anhört. Ich rede hier nicht von dem wahrscheinlich unumgänglichen Fachchinesisch der Jurisdiktion oder Finanzwirtschaft, sondern von Redewendungen, mit denen allgemeine Sachverhalte behandelt werden. Japanische Politiker machen gerne Gebrauch von Worten, die in Lexikas bereits den Vermerk "altertümlich, elegant, gehoben" tragen, und sie drappieren ihre Äusserungen mit einer Vielzahl respektvollster Formulierungen, die man im täglichen Leben kaum mehr hört. Für Normaljapaner klingt das abgehoben und blasiert. Die Sprache einer Sonderklasse, die nur unter Mühe und grosser Aufmerksamkeit verständlich ist.

Dabei kommt das Japanische dem Bedürfnis, verschleiernd zu reden, ohnehin schonentgegen. Handlungen, Entschlüsse, Gefühle, die im Deutschen jeweils einem bestimmt Subjekt zugeschrieben werden, sind im Japanischen oft nur als Vorgänge und Geschehnisse dargestellt, die sich wie von selbst ereignen und in die das Subjekt gleichsam verpackt ist. Es wird dabei meist gar nicht mehr genannt und ist im Geschehenswort enthalten, allerdings nicht als aktiv handelndes Subjekt, sondern passiv - als der Platz, an dem sich das Geschehen ereignet. Diese (für Europäer ungewöhnliche) Beziehung von Subjekt und Prädikat eröffnet den Philosophen spannende Einblicke in das Verhältnis zwischen Welt und Mensch, den japanischen Dichtern ist es ein unerschöpflicher Quell poetischer Phantasie. Im politischen Diskurs exzessiv angewendet, führt jene Art zu sprechen jedoch nur dazu, die Verantwortung des politischen Subjekts zu verwischen. Auch so versuchen Politiker in parlamentarisch-politischen Debatten, sich der demokratischen Kontrolle zu entziehen.

Koizumi hat mit diesem rituellen Redestil gebrochen. Eine japanische Freundin, die seine Auftritte im Fernsehen verfolgt, sagt dazu: "Koizumi redet so direkt und einfach wie ein Schuljunge." Wahrscheinlich muss er deswegen auch nicht alles vom Blatt ablesen wie die meisten seiner Kollegen. Er spricht oft frei, schaut seine Zuhörer immer wieder an, steckt bei staatsmännischen Reden eine Hand betont lässig in die Hosentasche und sucht die direkte Kommunikation. Stünde er und nicht nur seine regierende Liberaldemokratische Partei zur Wahl, dann würde Koizumi nach augenblicklichen Umfragen mit einer Zweidrittelmehrheit rechnen können.

Am Sonntag nun wählt Japan ein neues Oberhaus, die zweite und wie in Großbritannien weniger bedeutende Kammer des Parlaments. Aber falls der Koizumi-Effekt auch dort wirkt, steigen die Chancen für seine "Reformen ohne Tabus". Zunächst richtet sich Koizumis Vorschlag der Direktwahl des Ministerpräsidenten gegen die Klüngeleien um Posten und Einfluss in seiner eigenen Partei. Doch mit einer plebiszitär verstärkten Position des Regierungschefs ist auch eine Präsidialdemokratie denkbar. So bleibt die spannendste Frage, ob Japans Kaiserhaus dann auch zur Diskussion oder gar Disposition stehen wird. Noch aber ist diese Götterdämmerung Zukunftsmusik.

Elmar Weinmayr

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