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Herbie Hancock

© dpa

Jazz: Das Herz in der Lunge

Beim Berliner Jazzfest gewinnt Europa nach Punkten – bis Herbie Hancock auftritt. Eine Bilanz des Festivals.

Bis zum Abend des letzten Spieltags lagen die Mannschaften aus dem alten Europa haushoch in Führung. Sie waren auch numerisch in Überzahl, doch bei einem Jazzfestival wird ja jeder amerikanische Musiker mit dem Authentizitätsfaktor x multipliziert, den die Mathematiker des Jazz mithilfe des Blue-note-Geburtsbonus errechnen, der bei Herkunft aus New Orleans oder Chicago noch mal verdoppelt wird. Doch ihren genuinen Feldvorteil wussten die Amerikaner bei dieser Jazzfest-Ausgabe unter der Ägide des Schweden Nils Landgren nicht zu nutzen. Erst am Sonntagabend wendeten David Sanborn und Herbie Hancock durch ihre superben Auftritte das Blatt zugunsten der USA. Da war die irgendwie auch sehr schön derangiert gewesene Jazzwelt wieder in Ordnung.

David Sanborn zelebrierte mit seinem Quintett und fünf Bläsern eine brodelnde Feierstunde für seine beiden Idole Hank Crawford und David „Fathead“ Newman aus der Band von Ray Charles. Sanborns Zickzacklinien auf dem Altsaxophon, seine inbrünstig geflüsterten Schreie in den höchsten Lagen des Instruments klingen nach rasendem Schmerz und rasender Sehnsucht. Dazu wogte Sanborns Band mit einer organisch wirkenden Perfektion. Sie mied die Klischees des Genres und spielte einen stellenweise fast minimalistischen Rhythm’n’Blues.

Anschließend brachte Herbie Hancock mit einem genialen Handstreich die letzten 40 Jahre Jazzgeschichte auf den Stand der Gegenwart. Es war fast unheimlich, wie die Geister jener Epochen in seiner Musik lebendig wurden. Der Meister löste in seinen Improvisationen am Klavier, vor allem im ungemein beweglichen Zusammenspiel seines Quintetts jenes Versprechen ein, das nach einem Wort des Kritikers Whitney Balliett der Jazz seinen Zuhörern macht: dass die Musik des Augenblicks vor allem „The Sound of Surprise“ sei.

Hancock schickte das Publikum auf eine Zeitreise

Offenbar hat das neue Quintett mit dem Trompeter Terence Blanchard, dem Mundharmonikaspieler Grégoire Maret, dem Bassisten James Genus und dem Schlagzeuger Kendrick Scott in Hancock eine Inspirationslawine ausgelöst. Schon das Eröffnungsstück „Actual Proof“ aus Hancocks Headhunters-Zeit war eine beinahe selbstironische, ungeheuer gewitzte Etüde in Post-Funkjazz. Statt sich wie früher in ausführlichen Synthesizer-Soli zu verströmen, hielt Hancock sein elektronisches Gerät an der kurzen Leine. Um die musikalischen Schlüsselreize der Fusion-Ära auszulösen, genügte das gelegentliche Antippen eines Clavinet-Sounds auf dem Keyboard, den Rest besorgte er in glanzvollen Spontanerfindungen am Klavier.

Die folgende halbe Stunde aber, in der die Band Hancocks „Speak Like A Child“ mit Wayne Shorters „V“ verband, geriet zu einer alle Sinne öffnenden Zeitreise. Als schicke Miles Davis seinen dunklen Segen, flammte in einem Moment das schwarze Feuer der Sechziger auf, im nächsten Augenblick klang die Musik nach der futuristischen Melancholie aus der Glanzzeit von Weather Report. Überhaupt wehte mit Marets Mundharmonika-Sound immer wieder der ländliche Akkordeon-Spirit von Joe Zawinul hinein – verwirrende Synästhesie für jene, die die Farben der einst führenden Bands des Jazzrock sonst mühelos auseinanderhalten können. Als es bei „Chameleon“ zu einer Abfolge kommunikationsfreudigster Duette zwischen Hancock am Umhänge-Synthi und seinen Mitspielern kam, kannte der Charme seiner in die Zukunft gerichteten Vergangenheitsschau keine Grenzen mehr.

Ein bisschen gemein war es schon, dass Hancock gleich zwei Headhunters-Stücke ins Programm nahm. Tags zuvor hatten sich nämlich die versprengten Reste dieser Truppe im Quasimodo teilweise an demselben Material abgearbeitet. Doch wo Hancock mit Witz, Reduktion und reiner Gegenwart entzückte, outeten sich die Headhunters als mittelmäßige, in den Siebzigern stecken gebliebene Headhunters-Coverband.

In Zukunft könnten die Berliner Bands das Jazzfest alleine bestreiten

Auch der Posaunist Roswell Rudd trug mit seinem Trombone Tribe zur Entzauberung der Vergangenheit bei. Der Auftritt bewies, dass die Primärtugend des Free Jazz – wildes kollektives Improvisieren – zur Attitüde wird, wenn heute immer noch auf dieselbe Weise gegen ein Bollwerk angeblasen wird, das längst zu Staub zerfallen ist. Bei den zahllosen Unschärfen im Zusammenspiel drängte sich zudem der Verdacht auf, die Haltung von einst solle den Mangel an kollektiver Vorbereitung aufs Konzert verdecken.

Drastischer hätte der Kontrast zum Trio des schwedischen Pianisten Bobo Stenson deshalb kaum ausfallen können. Stenson scheint nicht nur mit seinem Bassisten Anders Jormin über ein gemeinsames Dritthirn zu verfügen, das beider Spiel synchronisiert. Den beiden ist mit dem sanften Zappelphilipp Jon Fält am Schlagzeug ein Spieler der jungen Generation zugefallen, der ihre sublime Kunst noch mal auf eine höhere Stufe hebt.

Die 20 jungen Musiker des Andromeda Mega Express Orchestra um den Komponisten und Saxophonisten Daniel Glatzel führten in einem aufregenden Nachmittagskonzert das Zukunftsbild einer geschichtsbewussten improvisierten Musik vor. Sie klingt, als habe sich der „Third Stream“ aus den Fünfzigern an neuen Quellen mit frischer Energie vollgesogen und träte nun mit Macht zutage.

Handwerklich ähnlich souverän, aber aus einem völlig anderen Ideenreservoir schöpfend, spielte das Berliner Kollektiv Soap im A-Trane geistreiche Varianten von Funk und Reggae. Für jemanden, der die Entwicklung der Musikstadt Berlin mehr aus der geographischen Distanz mitbekommt, war die geballte Präsentation hauptstädtischer Jazz-Kompetenz fast ein Schock. Wenn die Berliner Bands so weitermachen, können sie ein Jazzfest der Zukunft auch mal allein bestreiten; vielleicht kein ganz schlechtes Konzept für den erklärten Festivalkonzeptfeind Nils Landgren. Natürlich kämen da auch Musiker aus New Orleans und Chicago – zum Befüllen ihrer Inspirationstanks.

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