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Jazzfest: Rap und Reptilien

Wie das Berliner Jazzfest über einer großen Vergangenheit die Gegenwart vergisst – eine Bilanz.

Von Gregor Dotzauer

Irgendwann will es jeder große Musiker noch einmal wissen. Ob die Energien, die sich einst intuitiv Bahn gebrochen haben, auch noch mit einigen Jahrzehnten auf dem Buckel aktivieren lassen. Und ob die Muskeln noch so mitspielen, dass sie den eigenen Bewusstseinskräften gewachsen sind. Mit 91 Jahren aber kann man es nicht noch einmal wissen wollen. Man will herausfinden, ob es überhaupt noch geht. Der Pianist Hank Jones, der seine beiden jüngeren Brüder, den Trompeter Thad und den Drummer Elvin, mittlerweile überlebt hat, dürfte, wenn seine staunenswerte Kondition anhält, noch mit hundert anständig durch Sonny Rollins'' „Oleo“ oder Thelonious Monks „Round About Midnight“ kommen.

Doch statt vor seiner Lebensleistung gleich in Ehrfurchtsstarre zu verfallen, müsste man fragen: Wann zuletzt hat er eigentlich ein Stück mit jener dezenten harmonischen Noblesse versehen, die ihn zu einem der besten Mainstream-Pianisten machte? Hätte er in seinem Trio mit dem agilen Swinger Willie Jones III am Schlagzeug nicht den Bassisten George Mraz, der noch dem verbrauchtesten Standard ein unverbraucht singendes Solo entlockt, die anderthalb langen Stunden im Haus der Berliner Festspiele hätten sich auf dem Niveau gehobener Barmusik eingepegelt – zumal die elementare Wucht des Tenorsaxophonisten Joe Lovano unfallbedingt ausgefallen war. Der 74-jährige Gastposaunist Curtis Fuller war dafür ein müder Ersatz: unsauber und unkonzentriert – aber eben auch eine Legende. Friede seiner Aura.

Die Gegenwart fand abseits statt - etwa im Jüdischen Museum, wo in einem Konzert am frühen Abend der 28-jährige israelische Pianist Yaron Herman zusammen mit Stéphane Kerecki am Bass und Cédric Bec an den Drums die Möglichkeiten des zeitgenössischen Klaviertrios zwischen Hochromantik, Powerplay und zerfasernder Abstraktion vermaß – und das in einer gleichberechtigten Gruppe. Wenn das Jazzfest eine programmatische Vision besäße, würde es Musiker wie Herman auf die Hauptbühne holen, wo viel zu sehr das Kanonisierte beschworen wird. So war es fast ein Glücksfall, dass die NDR-Bigband unter Jörg Achim Keller ihr „Tribute to Horace Silver“ nicht mit dem 81-jährigen, parkinsonkranken Meister selbst, sondern mit dem erst gut halb so alten Jacky Terrasson inszenierte. Er spielte sich mit bluesig kreiselnden Silverismen, temperamentvoll über die ganze Tastatur rollenden Klangwogen, durch einige von Silvers bekanntesten Kompositionen – von der Ballade „Lonely Woman“ bis zum groovenden „Song For My Father“. Gregor Dotzauer

Ist es um das Berliner Jazzfest im 45. Jahr seines Bestehens bestellt wie um die SPD? Man weiß einfach nicht mehr, warum es das Festival in einer an wild wachsendem Jazz so überreichen Stadt noch braucht. Und das Jazzfest weiß es selbst auch nicht. Mobilisieren kann es Traditionswähler noch, aber angekündigt als Grenzüberschreitung, bei der zum Mauerfalljubiläum auch musikalisch eine Reihe Mauern fallen würden, spannte es zum Abschluss seine Muskeln und wurde laut, wie das bei Jam-Sessions üblich ist.

Es ist ein Irrtum anzunehmen, die Jam- Session sei ein dem Improvisationsbedürfnis des Jazz genuines Format. Auch Blues- und Rockbands jammen, was das Zeug hält, wenn sich kein zwingender Einfall ergibt. Man darf ruhig Herumdaddeln dazu sagen. Und genau das war es, was, wenn auch auf hohem Niveau, der das Jazzfest beschließende Booker T. mit seiner blutjungen Begleitband, den MG’s, anstellte. Mit Jams kennt er sich aus. Seinen großen Hit „Green Onions“ erdaddelte er sich Ende der sechziger Jahre mit der MG’s-Urbesetzung aus einem simplen Blues- Riff, während man im Studio darauf wartete, einen Werbejingle einzuspielen. In die Musikgeschichte hat sich der beinahe 65-jährige Organist als perfekter Sideman eingeschrieben. Er half Otis Redding, „(Sittin’ On) The Dock Of The Bay“ aufzunehmen und erwies sich als Produzent von Soulstar Bill Withers bis Country-Rebell Willie Nelson als Allzweckwaffe der Stax-Schule.

In Berlin präsentiert sich das Quartett um Booker T.s pfeifende Hammond-Orgel als ausgebuffte Showband, die jeder Wahlkampf-Veranstaltung zur Ehre gereicht hätte. Es rieselt Hits vom süffisant-treibenden „Green Onions“ über „Time Is Tight“ und „Hip Hug Her“ mit seiner Kirmesmelodie bis zum Titelsong des Italo-Westerns „Hang ’Em High“. Die Songs drängen als erratische Monumente des Sixties-Soul ins Wuchtige. Rap-Einlagen inklusive. Und als bei der Zugabe nicht nur Reddings Evergreen gespielt, sondern auch nahtlos zu Neil Youngs „Rockin’ In The Free World“ übergeleitet wird, ist der beschämende Gipfel erreicht. Geschenkt, dass die Band lange braucht, um die richtige Tonart zu finden. Sie macht einem Jazzfest wenig Ehre, das schon zuvor uninspiriert wie selten auf die Glaubwürdigkeit historischer Namen setzte.

Auch Gitarrist John Scofield wendet sich früher am Abend seinen Anfängen zu. Die liegen im Blues. Und deshalb hat er ein Problem. Denn Bands wie den Black Keys oder den verschiedenen Inkarnationen eines Jack White dient der Blues ebenfalls als Fixpunkt für eine brachiale, metallische Neuinterpretation der alten Werte. Da kann der Jazz-Professor Scofield nicht mithalten. So weicht er auf das unverfänglichere Terrain der Gospel-Tradition aus, wo er jene harmonischen Urformen entdeckt, aus denen Legionen an Hits gefertigt worden sind. Mit der exzellent besetzten Piety Street Band aus New Orleans spielt er spirituelle Klassiker wie „Motherless Child“, „Something’s Got A Hold On Me“ oder „It’s A Big Army“. Eigentlich geht es um die Freuden der einfachen, durchsichtigen Struktur, aus der Scofield das Bluesige, diese aufgekratzte Klage und Selbstanklage herausmergelt, aber der Rückgriff klingt angestrengt und lässt von dem Geist und dem euphorischen Kern des Gospel nichts übrig. Nur bei Hank Williams’ „Angel of Death“ ist das für einen Augenblick anders. „I need no doctor“, intonieren Scofield & Co zum Abschluss. Aber das Jazzfest hat einen Doktor bitter nötig. Kai Müller

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