zum Hauptinhalt
Leidenschaftlicher Virtuose: Joachim Kühn.

© picture-alliance/ dpa

Jazzpianist Joachim Kühn wird 70: Subtiler Powerplayer

An den Tasten ist er ein Hochartist: Der gebürtige Leipziger Joachim Kühn hat Weltkarriere gemacht. Jetzt wird der vielseitige Jazzpianist 70.

Von Gregor Dotzauer

Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen „Solarius“, seiner ersten Studioaufnahme mit dem Quintett des 15 Jahre älteren Bruders, des Klarinettisten Rolf Kühn, und „Moscow“, seiner gerade erschienenen Duoproduktion mit dem russischen Altsaxofonisten Alexey Kruglov. Doch in gleich welcher Konstellation man Joachim Kühn, der am heutigen Sonnabend 70 Jahre alt wird, spielen hört: Er war nie Chamäleon genug, als dass man ihn nicht stets als eigenständige pianistische Stimme hätte wahrnehmen können.

Damals, 1964, in der Produktion für das DDR-Label Amiga, rüttelte er noch am Eingang zum modernen Jazz. „Solarius“ bewegte sich an der Grenze eines abstrakt gewordenen Cool Jazz zum modalen Jazz, wie ihn John Coltrane populär machte. Heute, in der Einspielung für das Münchner Label ACT, gebietet er souverän über sämtliche Formen, die sich durchgesetzt haben. Die Hitze und die Wallungen des freien Spiels, die ihn zeitweise bis zum clusternden Berserkertum von Cecil Taylor führten, sind ihm ebenso geläufig wie dramatisch ausgekostete Dissonanzen und neoromantische Melodieseligkeit, die ihn auch schon in reinem Schönklang versinken ließ. Selbst in den sämigsten Jazzrocktöpfen der späten 70er Jahre wühlte er in seinem Fender Rhodes, als könnte er das allzu dick und glatt Gerührte mit seinen Ekstasen aufmischen.

Welche Weltkarriere dem gebürtigen Leipziger geglückt ist, kennt im deutschen Jazz wenig Vergleiche. Nachdem er 1966 in den Westen fliehen konnte, legte er es allerdings auch konsequent auf Internationalität an. 1967 nahm er für das amerikanische Label Impulse zusammen mit Rolf eine Art Totengesang für den kurz zuvor gestorbenen Coltrane auf: „Impressions of New York“. Im selben Jahr entstand „Transfiguration“, eine wunderbare, ihren freiheitlichen Geist bis heute bewahrende Aufnahme mit dem Vibrafonisten Karl Berger für die Schwarzwald-Firma MPS.

Von 1968 an eroberte er von Paris aus die zeitgenössische Szene. Er musizierte mit Don Cherry, Jacques Thollot, Michel Portal und Phil Woods, und später immer wieder mit Ornette Coleman, der Legende des freien Jazz. Leider zeugt von dieser Kooperation nur eine einzige Liveaufnahme unter dem Titel „Colors“.

Kühn zehrt von einer klassischen Ausbildung, die ihm bis heute eine verblüffende Virtuosität ermöglicht. Im Oktaven-Unisono flirrt er über die Tasten oder stürzt sich in seine getrillerten Arpeggien, die ihn auf Anhieb identifizieren. Seine Hochartistik, die ihn auch schon an die Seite von Chick Corea und Martial Solal brachte, hat bei allem Interesse am rein Energetischen aber auch die Neigung, sich zu verselbstständigen. Die Kühn-Ornamente und Formeln wiederholen sich ermüdend, der Aktionismus nimmt überhand. Gerade bei Soloauftritten, in denen er auf klassische Kompositionen zurückgreift, steht dem auch nicht immer ein klar artikuliertes Ausgangsmaterial gegenüber. Kühns Bach-Paraphrasen etwa klingen, ganz gegen den Geist dieser Musik, zuweilen verwaschen-pompös.

Am besten ist er deshalb da, wo ihm ähnlich virtuose Kollegen Paroli bieten und der Aktionismus von lebendiger Interaktion im Zaum gehalten wird. Ein Gipfelpunkt seiner Arbeit – und des europäischen Jazz – ist sein Trio mit dem verstorbenen französischen Bassisten Jean-François Jenny-Clark und dem Schweizer Meisterschlagzeuger Daniel Humair. Im Rahmen einer Birthday-Edition hat ACT nun Liveaufnahmen dieser Formation vom Berliner Jazzfest ausgegraben, deren Lust am subtilen Powerplay noch auf Jahre hinaus Maßstäbe setzen wird.

Pünktlich zu Kühns Geburtstag ist mit „Transmitting“ überdies soeben ein Dokumentarfilm von Christoph Hübner angelaufen (in Berlin in den Kinos b-ware und Eiszeit), der ihn und sein jüngstes Trio mit dem spanischen Drummer Ramón López und dem marokkanischen Gimbri- Spieler Majid Bekkas bei Aufnahmen in und um Rabat zeigt. Der Ethno-Jazz, der hier mit einheimischen Gnawa-Musikern entsteht, ist die tiefste und am längsten währende weltmusikalische Einlassung, die er seit seiner Zusammenarbeit mit dem libanesischen Oud-Spieler Rabih Abou-Khalil gewagt hat. Seinen Geburtstag verbringt Kühn, der mittlerweile hauptsächlich auf Ibiza lebt, übrigens arbeitend in Berlin. Zur Feier des Tages begibt er sich mit seinem Bruder Rolf ins Studio. Gut, dass daran bald jeder teilhaben kann.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false