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Kultur: Je später die Liebe

So jung war das Alte schon lange nicht mehr: Das Neue Rigaer Theater von Alvis Hermanis’ gastiert mit „Long Life“ im Hebbel am Ufer

Einen Apfel essen mit den dritten Zähnen – gar nicht so einfach. Selbst wenn es der Apfel der Versuchung ist, den der ältliche Verehrer fein klein geschnitten herüberreicht. Um sodann, unterstützt durch E-Piano und Mikrofon, seiner Angebeteten ein Lied zu singen, in das sie zögernd einstimmt. Zwei dünne, alte Stimmen, oft mehr Vibrato als Ton, und eine wunderbare Liebesszene mit recht derben Untertönen. Dass Mikros Töne von sich geben, wenn man sie in Gefäße hält, erfreut die beiden Alten sehr. Also: rein in die Vase, raus aus der Vase, unter konspirativem Kichern, immer wieder. Diskreter sah man Verführung nie.

Es sind solche Momente der Zärtlichkeit inmitten der Tristesse, durch die Alvis Hermanis Theaterabend „Long Life“ zu leuchten beginnt. Denn eigentlich ist das Leben ein Jammertal, und das Alter seine tiefste Sohle. Die Augen, sie wollen nicht mehr, selbst wenn man zwei Brillen aufeinander setzt. Der Rücken, er schmerzt, und jedes Bücken wird zur Qual. Das Zittern der Hand, der gichtverkrümmte Finger, das Mümmeln mit den dritten Zähnen: vielfältig ist die Anzahl der Gebrechen, und die Strategie, mit ihnen fertig zu werden, heißt Geduld.

Fünf Bewohner einer Kommunalwohnung in Riga hat Alvis Hermanis in seiner gefeierten Inszenierung vereint, die nun für drei Abende im Rahmen des „Simple Life“-Festivals auch in Berlin Station macht. Rechts die Küche, links das Klo, und dazwischen drei Zimmer, angefüllt mit einem Universum von Krimskrams und Krempel. Postsozialistische Armutswelt und gammeliges Altersheim mischt sich auf unheilvolle Weise – die Gerüche, die diese Ansammlung von schimmelnden Milchflaschen, ungewaschenen Kleidern, Nachttöpfen, Plastikblumen und fettigen Bratpfannen eigentlich ausströmen müsste, erspart uns die Inszenierung. Doch auch so ist es keine Freude, neben dem Klo zu sitzen.

Der Clou: Die fünf Schauspieler, die in dieser Altershölle vegetieren, sind allesamt jung. Jede Geste, jedes Zittern der Hand, jedes tränende Auge, jeder schlurfende Gang ist mühsam einstudiert. Am Anfang sieht man es noch, spürt die Verkleidung, bewundert die Verstellungskraft. Doch dann siegt der Schein über das Sein, meint man welkes, weiches Fleisch unter dem Hemdchen zu sehen, wo doch nur glatte Haut ist, glaubt den Geruch der Verwesung zu spüren, süßlich und dick, und den Sensenmann, der hinter jeder Tür lauert.

Ein Leben hin zum Tod ist es, was in dieser geschlossenen Gesellschaft übrig bleibt. Der Versuch auszubrechen, und sei es nur zum Einkaufen, misslingt. Ist endlich alles gerichtet, der Mantel, der Hut, hat sich das Paar gegenseitig mit Schal, Kopftuch und Handschuhen versorgt, ist jede Energie schon wieder verbraucht. Sie wartet ängstlich an der Tür – er schnarcht schon längst wieder mit offenem Mund im Sessel. Es gibt kein Entkommen aus den Schwächen des Alters.

Aber es gibt Trost und Alterslust. Der eine zieht sich eine Pflanzenkolonie in leeren Milchflaschen und erfreut sich am schauerlich schrägen E-Piano, der andere renoviert mit Inbrunst seine Räume und klettert immer wieder halsbrecherisch auf Schränken herum. Der dritte schneidert Anzüge, am liebsten für die ganze Belegschaft. Und alles dreht sich um eine zierliche Alte im himmelblauen Kleid, die von ihrem Mann zärtlich umsorgt, vom Nachbarn heimlich verehrt wird. Die schmale blonde Schauspielerin Guna Zarina ist eine Sensation, wie sie die Augen zusammenkneift, um genauer zu sehen, wie sie zittrig zwischen Tisch und Schrank hin und herschlurft, voller Grazie noch im Verfall.

Kein Wunder, dass der 38-jährige Alvis Hermanis und sein „Neues Rigaer Theater“ derzeit als eine der heißesten Entdeckungen der europäischen Theaterszene gelten, von Wiesbaden bis Salzburg gefeiert werden. Sein Theater ist problemlos transponierbar, funktioniert ohne Wort, ist überall verständlich. Was man sieht, erwartet uns alle. Nicht nur deshalb lohnt es, genauer hinzusehen. Nicht alles ist schrecklich, und selbst unter den offensichtlichen Wendeverlierern keimt Humor und Lebenslust. Von „Früher war alles besser“ ist unter den Alten keine Rede. Es ist eine humane Botschaft, die uns diese Truppe aus Lettland überbringt. So jung war das Alte schon lange nicht mehr.

Am Schluss singt der Alte seine Prinzessin mit einer Liebeslied leise in den Schlaf. Zärtlicher kann man den Schwanengesang des Lebens nicht hören.

Noch einmal heute, 20 Uhr, HAU 3 . Parallel ist heute und morgen Alvis Hermanis videofreudige Gorki-Adaption „By Gorki“ im HAU 1 zu sehen (19.30 Uhr).

Christina Tilmann

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