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Coverboy der sechziger Jahre. Jean Genet in Paris.

© Roger Parry / Schwules Museum

Jean Genet zum 100.: Die Sonne des Bösen

Zwischen Beichtstuhl und Latrine: Das Schwule Museum Berlin feiert den Skandalautor Jean Genet zum 100. Geburtstag – und sich selbst.

Von Gregor Dotzauer

Der Heiligenschein, den ihm einst Jean-Paul Sartre aufsetzte, ist verglüht. Aber was heißt das schon? „Saint Genet – Komödiant und Märtyrer“, jene auf Deutsch fast tausendseitige Studie, die Jean Genet die höheren philosophischen Weihen verlieh und seinen Ruhm von Frankreich aus in alle Welt trug, ist wieder jenem Bild gewichen, das er von sich selbst entwarf. „Ein Mensch ist groß“, schrieb er in seinem Debütroman „Notre-Dame-des-Fleurs“, „wenn er ein großes Schicksal hat; aber diese Größe ist von der Art sichtbarer, messbarer Größen. Sie ist Herrlichkeit, von außen gesehen. Von innen gesehen ist sie vielleicht Elend, und also poetisch.“

Der schwule Skandalautor, dessen deutscher Hauptverlag, der Gifkendorfer Merlin Verlag, noch Anfang der sechziger Jahre vor dem Hamburger Landgericht den Kunstcharakter dieses Buches verteidigen musste, ist mittlerweile widerstandslos kanonisiert. Und die Klage wegen Unzüchtigkeit, mit der man 1956 Heinrich Ledig-Rowohlt zur Vernichtung der Restauflage von „Querelle de Brest“ und zur Zahlung einer Geldbuße zwang, wirkt nur noch lächerlich. Aber gibt es der sadomasochistischen Urgewalt, mit der er in den menschlichen Eingeweiden wühlte, nicht erst ihre wahre Verstörungskraft zurück? Die finstere Schönheit des allzu Kreatürlichen ist Teil eines Werks, das die niedersten Triebe mit überwältigender Intelligenz und einer Sprache von exquisiter Poesie ausleuchtet.

Der Stardramatiker, der 1947 in Paris mit den „Zofen“ (Les bonnes) den Archetyp seines Kosmos aus Herrschaft und Unterwerfung, Auflehnung und Aufopferung schuf, ist von den Bühnen weitgehend verschwunden. Die zwei Schwestern, die er in ein Rollenspiel schickte, das den geplanten Mord an der gemeinsamen Herrin nur Wirklichkeit werden lassen kann, indem ihn die eine ersatzweise am Leib der anderen vollzieht, gehören zu einem mehr oder weniger entsorgten Repertoire wie der im Bordell spielende „Balkon“, der 1959 im Berliner Schlosspark-Theater zur deutschen Erstaufführung kam, oder „Die Wände“, die dort 1961 uraufgeführt wurden. Aber auch hier gilt: Genet kann uns gar nicht wirklich fern rücken, weil er uns in gewisser Weise noch nie wirklich nahe gekommen ist. 14 Jahre nach seinem Tod und kurz vor seinem 100. Geburtstag am 19. Dezember nähert sich vielleicht zum ersten Mal die Zeit, in der man Genets Amoralität selbst auf Abstand halten muss, um die Lektüre seiner Bücher zu ertragen.

Zugleich hat Genet, wie eine materialreiche Ausstellung im Schwulen Museum Berlin zeigt, das mit ihr wiederum sein 25-jähriges Bestehen begeht, seine Ausstrahlung nie verloren. Sie zelebriert zwar auch den Mythos und verfolgt in zahlreichen Fotos die deutsche Geschichte seiner Inszenierungen durch Hans Neuenfels, Peter Stein, Werner Schroeter, Rick Cluchey und – in einer eigenen Abteilung – Rainer Werner Fassbinders Verfilmung von „Querelle“. Doch das eigentliche Fortleben findet, wie mehrere Büchervitrinen zeigen, vor allem in literarischen und theoretischen Reflexen statt, was am Wochenende auch ein Symposion der FU über „Genet und Deutschland“ unter Beweis stellen will.

Genet spielt bei der Wiederentdeckung des Schriftstellers Hubert Fichte, dessen „Zeit“-Interview das Schwule Museum an einer eigenen Wand präsentiert, eine wichtige Rolle. Er ist implizit dauerpräsent in den rauschhaften Texten des Kärntner Büchner-Preisträgers und Symposiongastes Josef Winkler und explizit im „Zöglingsheft des Jean Genet“. Michel Foucault hat sich von ihm zu seiner Gefängnisstudie „Überwachen und Strafen“ inspirieren lassen. Julia Kristeva hat seinem Werk den Begriff der Abjektion abgepresst, die psychische Abspaltung von allem, was Ekel erregt und einen mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert: Leichen, Eiter, Aas. Und Jacques Derrida lässt in „Glas“ (Totenglocke) einem seiner wüstesten, Ende der sechziger Jahre auf Einladung von Peter Szondi an der FU begonnenen, aber erst vor drei Jahren auf Deutsch erschienenen dekonstruktivistischen Versuche, Hegel, den Phänomenologen des Geistes, gegen Genet, den Dämonologen des Körpers, antreten. In zwei bewusst phallisch aufragenden Drucksäulen stehen Derridas Lektüren nebeneinander: links auf jeder Seite Hegel, rechts Genet. Ein Kräftemessen, das keiner gewinnen kann – am allerwenigsten der Anwalt des absoluten Geistes.

Es sind dies alles, von Derrida abgesehen, Bemühungen, einen Genet zu rationalisieren, der sich aller denkerischen Virtuosität zum Trotz nicht rationalisieren lässt. Denn Genet wusste genau, dass „die Größe eines Menschen nicht nur von seiner Geisteskraft“ abhängt. „Sie besteht auch aus den Umständen, die ihn gewählt haben, damit er ihnen als Material diene.“

Für ihn waren dies die Mutter, die ihn verlassen hatte, die Pflegeeltern, die er bestahl, die berüchtigte Jugendbesserungsanstalt von Mettray, die Doppelheit von Beichtstuhl und Toilettenhäuschen, die Welt der Stricher und Tunten – und die stetig wachsende Lust an der Ästhetisierung jedweden Verbrechens mit dem Mord als höchster Kunst.

Wie konnte es kommen, dass der massiv heterosexuelle Sartre den massiv homosexuellen Genet so theorietrunken verklärte? Proust, schrieb Sartre 1946 in einer Ankündigung zu Genets Kindheitsroman „Wunder der Rose“, habe „die Homosexualität als Schicksal gezeigt, Genet steht als Wahl für sie ein. Der Autor hat den Diebstahl und das Gefängnis gewählt, er hat die Liebe und das Bewusstsein im Bösen gewählt. Er berührt, stellt sich zur Schau, und dennoch gibt er sich nie hin; seine Kunst hält die Leser auf Distanz. Deswegen trifft man in den Tiefen dieser fernen Welt, in der Hölle der Schließer, der Knastbrüder und des Baus auf einen Menschen.“ Nicht erst Susan Sontag fand „Saint Genet“ bei aller Bewunderung ein „ärgerliches Buch“. Schon Genets Freund Jean Cocteau hatte erkannt, dass es um einen schweren Fall von Gegenidentifikation ging, das Sichhineinversetzen des vaterlos aufgewachsenen Bildungsbürgers in den absoluten Desperado: „Wie jede wahrhafte Kritik ist es ein monumentales Sartre-Porträt, für das Genet nur das Fundament oder den Bronzeguss bildet und das ebenso wenig Genet darstellt wie die Freiheitsstatue in New York die amerikanische Freiheit.“ Am deutlichsten hat die Sartre-Biografin Annie Cohen-Solal benannt, wie diese marxistische Psychoanalyse ihren Gegenstand „lebendig einbalsamiert“ hatte. Sartre sei auf der Suche nach einem für ihn tauglichen Begriff von Praxis „so maßlos und zäh, dass es einer Vergewaltigung gleichkommt“.

Die Stärke der Ausstellung ist, dass es den „Saint Genet“ in 168 Zitaten präsentiert, ihre Schwäche, dass sie sich nicht dazu verhält – wie sie alles eher vorzeigt: die knappe halben Stunde seines einzigem Films, der Knastfantasie „Un chant d’amour“ (auch auf YouTube), seine Parteinahme für Arafats PLO und schließlich die Passion für die RAF. Kritisch eingeordnet wird Genet nur an einer Wand mit zum Teil eigens in Auftrag gegebenen Kommentaren von Künstlern und Intellektuellen oder Fundstücken von Witold Gombrowicz und Vladimir Nabokov: „Gefallen haben mir die Penismaße, die für die Liebhaber angegeben werden. Dabei fällt mir ein, dass ich genau dieselbe deskriptive Methode bei meinen Schmetterlingen angewandt habe.“

Gelohnt hätte auch ein Blick auf die Talente seiner Nachfahren Hervé Guibert und Bernard-Marie Koltès. Beide stehen im Schatten der dunklen Sonne, die Genet war, aber gemeinsam setzen sie einen Standard in der französischen Literatur, den Jonathan Littell mit dem schwulen SS-Obersturmbannführer seines Romans „Die Wohlgesinnten“ längst nicht mehr erreichte. Wenn Genet des Teufels war, geht er höchstens als Hilfssatanist durch.

Schwules Museum Berlin, bis 7. März. Mehringdamm 61, tgl. außer Di 14-18 Uhr, Sa bis 19 Uhr. - Symposium der Freien Universität, 10. - 12. 12., Habelschwerdter Allee 45, Raum KL 32/202, Eintritt frei. Infos: www.fu-berlin.de/genet100

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