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Spuren des Lebens. Jean-Pierre Léaud, geboren 1944.

© picture alliance / dpa

Jean-Pierre Léaud: Eine Begegnung mit dem Gesicht der Nouvelle Vague

Er ist das Gesicht des französischen Kinos: Jean-Pierre Léaud eröffnet eine große Retro im Berliner Babylon-Kino. Eine Begegnung im Hotel Adlon.

Die Sache lässt sich nicht einfach an. Lange Wege sind es für den Star, der den Interviewer von der Lobby des Hotels Adlon bis in sein Zimmer in der zweiten Etage führt, nein, in der zweieinhalbten, um genau zu sein, allerlei Fahrstühle vereinfachen den Weg durchs Labyrinth der Flure nur scheinbar, und seltsame Karten müssen immer wieder gegen Lesegeräte gehalten werden, damit diese neuzeitlichen Lifts sich überhaupt in Bewegung setzen, und am Ende eines überlangen Korridors klopft Jean-Pierre Léaud erst mal bedächtig an die Tür.

Ja, wir sind in einer Art Film, von Anfang an, in einer Szenerie, das Klopfen ist die feine Geste des fein in Anthrazit gekleideten 68-Jährigen mit dem dauerwilden, halblangen, schwarzen und silberfadendurchwirkten Haar. Wir warten kurz, es öffnet seine Frau Brigitte Duvivier, sehr strahlendes Lächeln, sehr nachdrückliches Türenschließen, der Interviewer bleibt draußen, und die Tür geht wieder auf. Dann steht die Exposition: Gespräch im Zimmer, die Ehefrau zieht sich einstweilen in einen Nebenraum zurück. Und Léaud zu seinem Besucher, der auf ein einstündiges Gespräch eingestellt war: „Eine Viertelstunde nur, länger kann ich mich nicht konzentrieren, so früh am Morgen, richtig lebe ich erst ab 14 Uhr“. Und später noch einmal: „Pardon übrigens, wenn ich mir manchmal widerspreche, ich gebe ja nie Interviews.“

Schwierig das alles noch? Ach was. Was bedeutet der Unterschied schon, 15 Minuten oder 60, wenn man einer Legende gegenübersitzt, dem Gesicht des französischen Kinos, als es Mitte des vergangenen Jahrhunderts alles überstrahlte und die Cineasten weltweit mitriss, dem Gesicht der ewig jungen Nouvelle Vague. Ja, es ist ein Gesicht voller Lebensspuren heute, eines, durch das manchmal ein zartes Gewitter geht und immer wieder viel Freude. Aber auch das Gesicht eine Mannes, der jene Kühle weit hinter sich gelassen hat, die ihm zur Maske geworden war, noch Jahre nach dem Tod von François Truffaut 1984, der sein väterlicher Freund und Regisseur gewesen war und für ihn – und sich selbst – die Alter-EgoKunstfigur Antoine Doinel erfand, für fünf Filme und zwanzig Jahre.

Hier also spricht einer, der nur von „François“ spricht, wenn er Truffaut meint, oder „Jean-Luc“ sagt, wenn er Godard meint, nur für Eustache (Vorname: Jean) und Kaurismäki (Aki), seinen wichtigsten späteren Inspiratoren, hat er eher Nachnamen parat. Nein, einer wie Léaud hat auch nach den filmisch so genialen 1960er-Jahren das Kino nicht zu siezen begonnen, aber das Verhältnis wurde doch erwachsener, vernünftiger – und nahm einen Neuanfang endlich mit Kaurismäki und „I Hired a Contract Killer“ (1990) nach einer Zeit der Verstörung und der Krise. „Vorher identifizierte ich mich mit meinen Regisseuren“, sagt Léaud, „inzwischen verkörpere ich vorgegebene Rollen.“

Mag sein, dass aus dem „emblematischen Gesicht der Nouvelle Vague, das die Filmgeschichte aus mir geschmiedet hat“, ein ganz normaler Schauspieler geworden ist. Reden wir lieber von den Anfängen, von „François“ also, der eine „unerhörte Gabe hatte, Kinder zu verstehen“, und als Kind fast noch kam der kaum 14-jährige Jean-Pierre selber zum Film. Ob der handgeschriebene Brief, den er damals vor „Les Quatre Cents Coups“ (Sie küssten und sie schlugen ihn) an Truffaut schickte, noch erhalten ist? Nein, der wohl nicht, und auch an den Text kann sich Léaud nicht erinnern, aber an das Foto, das er beigelegt hatte. Es zeigte den langhaarigen Schüler eines Internats abseits von Paris, einer Schule, „in der all die Jungs landeten, die von allen anderen Schulen geflogen waren. Ich weiß nicht“, sagt Léaud, oder seufzt er es für einen Augenblick, „ich weiß überhaupt nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich François nicht getroffen hätte.“

Mit dem Foto hat es eine besondere Bewandtnis. Denn nicht der verwilderte Früh-Hippie erschien zum Casting, sondern – der Schulfriseur hatte kurz zuvor alle Schöpfe gestutzt – ein kurzhaariges Kerlchen. „Wer ist denn das? Hatten wir den eingeladen?“, fragte Truffaut seine Leute, aber dann überzeugte dieser Junge mit seiner Spiellust und Verve und seinem beträchtlichen Ehrgeiz den Regisseur schnell. Dabei stand die Sache erst auf Messers Schneide, erinnert sich Léaud, schließlich hatte jemand von der Produktion oder gar Truffaut selbst auf die Rückseite des Fotos geschrieben: „Sehr hübscher Junge, aber zu weiblich.“

So kommt’s, wenn ein Schulfriseur mal eben eine Karriere rettet. Überhaupt ist Jean-Pierre Léaud wunderbar heiter an diesem Morgen, so anders als der nervöse, melancholische, zögernde Frauenheld und zugleich Frauennichtversteher, als der er für immer im Cineastengedächtnis wohnt. „Damals habe ich sehr eigentümlich gespielt“, sagt er, „immer schien ich, das hat mir Eric Rohmer mal gesagt, meinen Regisseuren zu ähneln, dabei ähnelten sich Jean-Luc und François und Eustache doch gar nicht.“ So viele große Namen von nebenan, und schon sind wir ganz im Legenden-Groove; die Themen auf dem vorbereiteten Notizzettel mögen die Themen sein, aber jetzt ist jetzt. Und im Nichts an Zeit und im Alles an Erinnerung geht sowieso jede Eile verloren.

Noch Fragen? Richtig, die Frage aller Fragen, sie kommt nebenbei, die Frage, mit der er in Truffauts Film-im-Film-Film „Die amerikanische Nacht“ bald das ganze Team nervt: „Sind Frauen magisch?“ Da schweigt Jean-Pierre Léaud und lächelt und weist mit der ausgestreckten Hand in den Nebenraum, hinter dessen geschlossener Tür seine Frau auf das Ende des Interviews wartet. „Sie ist es, die mich zum Erstrahlen bringt“, hat er anderswo mal gesagt, und als das Gespräch offiziell zu Ende ist und alle Türen offen und dennoch ein kleines gemeinsames Reden beginnt, ist es erst recht so: pure Magie und für immer.

Babylon Mitte, Eröffnung der NouvelleVague-Reihe am heutigen Freitag, 19 Uhr, mit Jean-Pierre Léaud im Podiumsgespräch und anschließender Vorführung von „Die amerikanische Nacht“. Die Reihe mit 27 Filmen läuft bis 3. Februar.

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