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Verstummter Gigant. Jean Sibelius (1865–1957) während des Zweiten Weltkriegs im Garten seiner Villa „Ainola“, fotografiert von Santeri Levas.

© The Finnish Museum of Photography

Jean Sibelius zum 150. Geburtstag: Und ewig lauschen die Wälder

Letzter Klassiker, großer Unbekannter: Vor 150 Jahren wurde der finnische Komponist Jean Sibelius geboren.

Im Park von Aulanko strebt der Wanderer durch dichte Kiefern- und Birkenreihen einem Hügel zu, den ein trutziger Aussichtsturm markiert. Einmal erklommen, gibt er den Blick frei über Wälder und Seen, die sich so ineinanderschieben, dass sie eine unauflösbare Einheit zu bilden scheinen. Für den Tourismusverband steht fest: Das ist er, der „Finlandia“-Blick. Hier hat Jean Sibelius jene Eindrücke empfangen, die in seiner symphonischen Dichtung Klang wurden. Ein Werk, das den Komponisten und seine nordische Heimat auf der ganzen Welt bekannt machte.

Nicht weit von Aulanko kommt Johan Julius Christian Sibelius am 8. Dezember 1865 in der kleinen Garnisonsstadt Hämeenlinna zur Welt. Obwohl er ihn kaum gekannt hat, wird Sibelius später Wesenszüge seines Vaters entwickeln. Der kräftig über seine Verhältnisse lebende Arzt stirbt, als Sibelius zwei Jahre alt ist. In Hämeenlinna wird Schwedisch gesprochen, und obwohl man in der Provinz lebt, besteht eine Verbindung nach Helsinki: Die erste Bahnlinie Finnlands sorgt dafür, dass der junge Sibelius auch Musiker von Format erleben kann, die in Hämeenlinna Station machen. Man kann sie sogar in „Finlandia“ hören, die dampfende neue Zeit.

Lebenslang wird der Komponist den Zug der Vögel beobachten

Doch was heißt überhaupt Finnland? Das jahrhundertelang von den Schweden beherrschte Land ist seit 1809 russisches Großfürstentum. Sibelius muss die finnische Sprache erst erlernen, sie wird ihm zeitlebens nie zur Muttersprache. Viele seiner Lieder, selbst Werke von nationalem Stolz, sind auf schwedische Texte komponiert. In die musikalische Welt träumt sich der kleine Janne unter dem Klavier liegend. Es ist ein Universum seltsamer Harmonien, denn das Instrument ist reichlich verstimmt. Als es durch ein sauber klingendes Klavier ersetzt wird, räumt Janne seinen Platz, streift fortan mit der Geige durch die Natur und spielt für die Vögel seine ersten Improvisationen. Auch Aulanko besucht er auf seinen frühen Klangexpeditionen.

Es bleibt ihm der Traum vom Virtuosentum, der sich nie erfüllen wird, auch weil Sibelius unter furchtbarem Lampenfieber leidet. Lebenslang aber wird der Komponist den Zug der Vögel beobachten. Als er einen tief über sein Haus fliegenden Kranich trotz seiner kranken Augen bemerkt, weiß der greise Sibelius, dass sich die Natur von ihm verabschiedet hat. Zwei Tage später stirbt er, am 20. September 1957. Nach einem oft einsamen Lebensweg voller Zweifel ist er zur Ikone geworden. Einer lange schon verstummten allerdings, denn seine achte Sinfonie wird er nie vollenden.

Die Welt wartet auf seine 8. Symphonie - sie landet im Kachelofen

Noch 1931 arbeitet Sibelius in Berlin an diesem Werk, für den Herbst 1932 ist die Uraufführung in Boston geplant. Das „Time Magazine“ druckt den kahlen Schädel des beliebtesten klassischen Komponisten in den USA auf dem Titel. Die Welt wartet. Und es kommt der Krieg. Irgendwann Mitte der 40er Jahre gibt Sibelius das Ringen mit seiner Achten auf. In dem leuchtend grünen Kachelofen seiner Villa „Ainola“, der für den Synästhetiker Sibelius ein pastorales F-Dur ausstrahlt, verbrennt er die Manuskripte. Danach, so heißt es, habe er ruhig, auch erleichtert gewirkt. Die Last, noch einmal einen Schritt weiter zu gehen in seiner unbequemen Nachfolge Beethovens, war von seinen Schultern genommen.

Der junge Sibelius trifft in Helsinki auf ein Klima hitziger, auch gewalttätiger Identitätssuche. Finnland drängt zu nationaler Autonomie. Doch was macht seine wahre Natur aus, wo liegen die kulturellen Wurzeln? Von den finnischen Bauern und diesem Teil seiner Vorfahren entfernt sich der Musikstudent, so weit er kann: Er benutzt die Visitenkarten eines verstorbenen Verwandten, der als Kapitän in der Karibik am Gelbfieber zugrunde ging, „Jean Sibelius“ steht darauf. Ihr neuer Besitzer kleidet sich ausgesucht elegant. Besonders seine Hutmanie ruiniert immer wieder die klamme Kasse des Komponisten, der keineswegs so wirken wollte, wie ihn Kritiker seiner Musik gerne sahen: als großohrigen Troll aus dem Wald.

Immer wieder reist er nach Berlin, zuerst 1899 als Student. Es geht gleich zum Hoffotografen und zu Maßscheidern, danach zu Prostituierten und immer wieder dahin, wo Hochprozentiges in Strömen fließt. „Der Alkohol ist der einzige Freund, der einen nicht verlässt“, resümiert Sibelius, dessen Clique in Helsinki für tagelange Gelage im Nobelhotel Kämp bekannt ist. Seine Begleitmusiken für Theaterschauspiele sind erfolgreich, auf der Straße singen sie eine eingängige Melodie mit neuem Text: „Ich gehe heute wieder ins Kämp“. Sibelius’ Frau Aino, die ihm sechs Kinder gebiert, treiben diese Exzesse zur Verzweiflung. Als sie im Hotel anfragen lässt, wann ihr Mann nach Hause zu kommen gedenke, antwortet dieser: „Liebe Frau, ich bin Komponist, kein Hellseher.“

Das „Kämp“ wurde nach Sibelius’ Tod lange als Bürohaus genutzt, jetzt ist es wieder ein Nobelhotel, in dem man nicht laut über die tiefen Abstürze der Bohemiens von damals spricht. Aino Porra, eine Enkelin des Komponisten, fühlt sich merklich fremd in den neu erstandenen Salons. Auch sie ist Musikerin, spielte als Oboistin im Orchester der Finnischen Nationaloper. Wie schwer das gewesen sein muss mit einem übergroßen Großvater im Rücken, kann man bei ihr nur leise ahnen. Sie erinnert ihn als zugewandt und gleichzeitig immer in den Rauch einer Havanna gehüllt. Lauter geht ihr Sohn Lauri mit seinem Erbe um: Jeans Urenkel spielt Bass in der Power-Metal- Band Stratovarius.

Zum Jubliäum - eine neue Biografie und Rattles Symphonien-Zyklus auf CD

„Das Gefasel von den 1000 finnischen Seen ersetzte jahrzehntelang jede ernsthafte Auseinandersetzung mit seinen Partituren“, schreibt Volker Tarnow. Man merkt seiner Sibelius-Biografie an, dass der Autor oft als Kritiker unterwegs ist. Tarnow mangelt es nicht an zugespitztem Urteil – nur strömen in seinem 280-Seiter Darstellung und Wertung so unauflöslich zusammen wie die Wälder und Seen von Aulanka. Das lässt sich über weite Strecken zwar flott lesen, kommt dem Rätsel dieses singulären Schaffens aber nicht viel näher. Auch wirkt recht unentschlossen, wie Leben und Werkanalyse nebeneinander abgestellt werden. Hier würde es beginnen, ein wirklich großes Sibelius-Buch, das in deutscher Sprache auch zum Jubiläum ungeschrieben bleibt.

Die gewichtigste Veröffentlichung sind die in einer himmelblauen Box versammelten sieben Symphonien, die Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern eingespielt hat. Die Live-Mittschnitte entstanden in diesem Jahr, erstmals hatten sich die Musiker 2010 an Symphonien gewagt. Sibelius, der selten ein gutes Haar an Kollegen und schon gar Konkurrenten ließ, wähnte sich einzig vom jungen Karajan wirklich verstanden. Was hätte er wohl zu Rattles Ansatz gesagt, der vor allem den rhythmischen Urgrund der Werke zu erhellen weiß?

Seine Akribie, die zurückreicht bis zum Studium der Partituren als 19-jähriger Assistent beim großen Sibelius-Dirigenten Paavo Berglund, ist ebenso bewundernswert wie fordernd: „Wenn ein Orchester nicht von vornherein die gleiche Liebe für diese Musik hegt wie ich, gestaltet sich die Arbeit sehr zäh“, räumte Rattle Ende letzten Jahres im Philharmoniker-Magazin ein. Und setzt noch eins drauf: „Es ist recht schwierig, mit den Philharmonikern überhaupt ein Accelerando hinzubekommen!“

Wenn es leicht wäre, wäre es kein Sibelius. Das weiß Rattle und härtet die Klänge immer weiter aus, bis sie fern sind von allen Seenlandschaften, vom Naturalismus. Dort erwartet uns Sibelius.

Tarnows Biografie ist im Henschel-Verlag erschienen (24,95 €), Rattles Gesamtaufnahme auf dem Label der Berliner Philharmoniker (69 €).

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