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Kultur: Jede ist ein Schwan

Rattle is it: Berliner Schüler tanzen Strawinskys „Feuervogel“

Der Feuervogel hat viele Gestalten. Leuchtend rote, sattorange, safrangelbe Flammenteufel huschen über die Bühne, das flackert und flattert, wimmelt und wuselt, klumpt sich zum Pulk, züngelt und streckt lichterloh die Arme empor, bis sich die Kinder der Marzahner Bruno-Bettelheim-Grundschule flugs zu Boden legen. Spätestens wenn die Weisen in weißen Gewändern (vulgo: Berliner Senioren) den Flammenteufelskreis betreten, wenn die Alten und die Blutjungen einander umschlingen, gibt es niemanden, der nicht ergriffen wäre.

Abende wie diesen erleben selbst hartgesottene Tanzkritiker im Zustand der Rührung: Haben wir schüchternen Mädchen nicht auch einst vom Primaballerina-Dasein geträumt? Und steckt nicht in jedem noch so linkischen Halbwüchsigen ein Prinz, der seine Angebetete aus den Fängen des Bösen befreien möchte? Hier ist Kinderstunde, Jugendweihe, Traumnacht, Zauberreich: Strawinskys „Feuervogel“, dieses Amalgam aus russischem Märchen, Parsifal-Unschuld, Erlösermythos und Kampfesgeisterreich, liefert dafür den passenden Sound: Klanggespinste, Kriegsgetümmel. Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker machen sich sanft ans Werk, die Flöte schmeichelt, es war einmal, ach. Heute geht es nicht um musikalische Spitzenleistung, nicht um Sir Simon Superstar, sondern um die rund 250 Kinder, Jugendlichen und Senioren da oben auf der Bühne der Arena Treptow. Erst zur Schlussapotheose trumpft auch das Orchester auf.

Die Tanzprojekte der Berliner Philharmoniker sind spätestens seit der Musikdokumentation „Rhythm is it“ Kult. Die Familie, die Freunde, die Klassenkameraden: 3000 Fans sind zum dritten Education-Programm nach „Sacre du Printemps“ (2003) und „Daphnis et Chloe“ (2004) gekommen. Susannah Broughton, bislang Co-Choreografin und nun künstlerische Leiterin, hat bei den Kids aus Marzahn und drei Kreuzberger Schulen sowie bei den semiprofessionellen Tanzensembles mit pädagogischem Charisma erneut ungeahnte Energien freigesetzt. Die blendende Farbdramaturgie sowie die fantastischen, von Jugendlichen gefertigten Kostüme machen einen schönen Effekt: lindgrüne Mädchenblüte, gepanzerte Käferarmee, Dark Vader mit Taliban-Vasallen, das Königskinder-Liebespaar. In jedem Schüler von heute steckt auch ein archaisches Moment – Anmut und Power.

Ein Ritus: Beschwörung der Pisa-Jugend. Die Methode, der eurythmisch sich bewegenden Menschenmasse das ornamental Schöne abzugewinnen, hat sich bewährt. Und doch wünscht man sich, das sei bei aller Rührung erlaubt, etwas mehr Zeitgenossenschaft, Frechheit, Wagemut. Warum dürfen die Senioren nur vornehm schreiten? Warum nicht öfter mal zuckende, ungelenke, befremdete Körper? Warum tummeln sich die türkischen Mädchen mit den Kopftüchern nur in den hinteren Reihen? Der Kampf zwischen Gut und Böse ist in diesen Tagen politisch wie sozial höchst virulent. In der Arena werden solche Assoziationen zum Schattenboxen entschärft.

Den kleinen knallroten Feuerteufel vorne links ficht das nicht an. Trotzig, mit coolem, forderndem Blick nimmt er den Schlussapplaus entgegen. Verbeugen ist nur was für Kulturbetriebsnudeln.

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