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Kultur: Jeder Deutsche hat profitiert

Götz Aly erklärt „Hitlers Volksstaat“ zu einer effizienten Zustimmungsdiktatur

Wendet man Alys schnoddrige und ignorante Art, mit der historischen Forschung umzugehen, auf sein eigenes Buch an, fällt das Urteil eindeutig aus: Das allermeiste dessen, was hier auf mehr als 400 Seiten mitgeteilt wird, ist seit langem bekannt. So wissen wir, dass das nationalsozialistische Deutschland mit der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung und insbesondere der Arbeiterschaft sehr vorsichtig umgegangen ist und ihr materielle Entbehrungen und Zumutungen so weit und so lange wie möglich zu ersparen suchte. Hierbei zog die NS-Führung Konsequenzen aus dem Ersten Weltkrieg, in dem gehungert worden war und an dessen Ende die Revolution gestanden hatte.

Einen November 1918, hat Hitler immer wieder betont, dürfe es nicht noch einmal geben. Bekannt ist auch, dass sich NS-Deutschland in großem Umfang auf Kosten der besetzten Gebiete mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln sowie Konsumgütern aller Art versorgt hat und der Hunger „exportiert“ wurde. Aly malt breit aus, dass die Soldaten hieran durch Sendungen in die Heimat partizipiert haben. Wie ein roter Faden zieht sich die Vorstellung durch das Buch, die deutschen Soldaten hätten, von ihrer Führung ermuntert, nichts anderes im Sinn gehabt, als Beutegut nach Hause zu schicken. Üblicherweise seien sie bepackt mit allem, was sie tragen konnten, auf Heimaturlaub gegangen. Dass dies am Soldaten Heinrich Böll illustriert wird, verstärkt den publikumswirksamen Effekt.

Bekannt ist auch, dass das nationalsozialistische Deutschland eine Reihe moderner Sozialmaßnahmen durchgesetzt hat. Aly ergänzt das bekannte Bild und, da er Differenzierungen meidet und kräftige Formulierungen liebt, zeichnet er die Konturen eines „völkischen Sozialstaates“, in dem, allerdings nur für die so genannten „Arier“, ein hohes Maß von Chancengleichheit verwirklicht worden sei. Bei Hitlers Herrschaft, so eine der zentralen Thesen des Buches, habe es sich um eine „Zustimmungsdiktatur“ gehandelt. Nicht in erster Linie durch Ideologie, Propaganda oder gar Terror und auch nicht in erster Linie durch die Scheinerfolge in der Wirtschaftspolitik oder die territoriale Arrondierung des Reiches hätten die Nationalsozialisten die Massen gewonnen, sondern durch sozialpolitische Errungenschaften, durch eine gute materielle Versorgung und die Lizenz zum Beutemachen.

Aly bürstet gegen den Strich, was sich irgend gegen den Strich bürsten lässt. Dabei kommt durchaus etwas heraus, aber leider kippt er das Kind fast immer mit dem Bade wieder aus. So macht es Sinn, die sozialstaatlich modernen Züge des NS-Systems herauszuarbeiten. Dennoch gelang es in Hitlers Diktatur keineswegs, „Chancengleichheit“ herzustellen, weil das Sozialsystem eben nicht sozialstaatlichen, sondern kriegswirtschaftlichen Prioritäten gehorchte und die sozialstaatliche Komponente im Zielkonflikt hiermit stand. Es fehlt also die Analyse der realen Gegebenheiten und die exakte Zurechnung sozialpolitischer Maßnahmen auf einzelne Teile der Bevölkerung. Aly suggeriert stattdessen, dass 95 Prozent der Bevölkerung vom Sozialsystem profitiert hätten. In diesem Zusammenhang wartet Aly mit der These auf, dass die Kriegslasten höchst ungleichmäßig verteilt gewesen seien und die oberen Schichten überproportional viel hätten leisten müssen. Hierin steckt ein wahrer Kern. Richtig ist auch, dass das Reich und nicht die Unternehmen der Hauptnutznießer der Enteignung, der Zwangsarbeit und der Ausbeutung der besetzten Gebiete waren.

Aly erweitert das bisherige Bild und untersucht die fiskalischen Auswirkungen der Ausbeutungs- und Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten im gesamten nationalsozialistischen Herrschaftsraum. Dabei stellt er einen engen Zusammenhang zwischen der fiskalischen Abschöpfung und der Entrechtung und Enteignung der Juden her: Das Reich habe sich aus finanziellen Schwierigkeiten in der Rüstungs- und Kriegsfinanzierung durch den Zugriff auf jüdisches Eigentum befreit. Erstmals sei dies 1938 geschehen und dann während des Krieges. Für die Jahre, in denen der Mord an den Juden kulminierte, konstruiert er gar Finanzierungskrisen, die als Primärmotivation für den Massenmord herhalten müssen. In leicht modifizierter Weise wird das Argument auch beim Thema Kollaboration verwendet. Von der NS-Regierung unter äußersten finanziellen Druck gesetzt, hätten die halbsouveränen Regierungen Frankreichs, Ungarns, Bulgariens und Rumäniens der Entrechtung und Enteignung der Juden zugestimmt, um auf diese Weise ihre finanzielle Last zu mindern. Den Höhepunkt erreicht diese Argumentation, wenn die Enteignung der Juden als Instrument der Inflationsbekämpfung interpretiert wird, weil die den Juden geraubten Besitztümer und Einrichtungsgegenstände, die an „Bedürftige“ und Interessenten verhökert wurden, Kaufkraft absorbiert und die Währungen stabil gehalten hätten. Auf diese Weise verbindet Aly das Wohlergehen jedes einzelnen Deutschen mit dem Judenmord: Jeder Deutsche war Profiteur.

Niemand wird leugnen wollen, dass die Entrechtung, Enteignung und Ermordung der Juden dem Reich materiellen Gewinn einbrachte. Dies ist im Zusammenhang mit dem jüdischen Zahngold immer wieder erörtert worden. Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob diese Maßnahmen ökonomisch rational genannt werden können und ob die Vernichtung der Juden aus ökonomischen oder gar sozialpolitischen Gründen erfolgte. Aly konzentriert sich für die Begründung seiner These auf den fiskalischen Aspekt. Hierbei rächt sich, dass er das NS-System weder in seinen institutionellen noch in seinen kriegswirtschaftlichen Aspekten analysiert. Finanzierungsengpässe gab es in der deutschen Kriegswirtschaft nicht; denn sie war keine „Marktwirtschaft“, wie Aly annimmt, sondern ein staatlich reglementiertes Bewirtschaftungssystem, in dem alle Grenzen für eine restriktive Geldschöpfung aufgehoben waren und Bezugsrechte („Karten“) wichtiger waren als Geld. Auch die „Kaufkraftabschöpfung“ funktionierte so: sie wurde durch die Mangelwirtschaft und die Stimulierung des Sparwillens der Bevölkerung stillgelegt, was so lange gelang, wie das Vertrauen in den „Endsieg“ Bestand hatte. Die Inflation wurde daher auch nicht, wie Aly zu meinen scheint, vermieden, sondern nur aufgestaut.

Macht man sich klar, dass alle bei den Geldsammelstellen festgelegten Gelder der Kriegsfinanzierung dienten und ausgegeben waren, als das Reich kapitulierte, korrigiert sich auch die Annahme Alys, die unteren Schichten hätten vom NS-System überproportional profitiert. Die Geldbesitzer und die Vertriebenen zahlten in Wirklichkeit die Zeche und nicht die Sachgutbesitzer. Dagegen hatte die NS-Mangelwirtschaft ganz andere Probleme, die in Alys Buch nicht erörtert werden: Sie litt an einem akuten Mangel an Arbeitskräften, hatte ständig mit Rohstoffproblemen und Produktionsengpässen zu kämpfen und auch die Nahrungsmittelzufuhr funktionierte keineswegs gut. Hier hängt alles vom Vergleichsmaßstab ab: Deutschland war zweifellos besser dran als die besetzten Gebiete Europas, und die Versorgung war weit besser als im Ersten Weltkrieg. Aber sie war eben auch schlechter als in den Vorkriegsjahren, die Bevölkerung war von Zufriedenheit weit entfernt und die Wirtschaft funktionierte mehr schlecht als recht.

Die Judenverfolgung wirkte ökonomisch desaströs. Sie zerstörte schon im Frieden gewachsene Zusammenhänge, und die Massenmorde vernichteten in großem Umfang jene Ressource, an der es am meisten mangelte: Arbeitskräfte. Der kurzfristige Profit der Judenpolitik stand in keinem Verhältnis zu den ökonomischen Dauerschäden, die diese Politik während der gesamten NS-Herrschaft anrichtete. Für sie gilt, was für alle Raub- und Beutepolitik gilt, sie zerstörte für einen kleinen kurzfristigen Effekt die Grundlagen des Wirtschaftens.

Aly tut sich mit dem erneuten Versuch, seine alte These von der ökonomischen Rationalität der Judenmorde zu rechtfertigen, keinen Gefallen. Das Buch ist nicht zu empfehlen, weil es einer höchst einseitigen Geschichtsperspektive das Wort redet und geeignet ist, den fundamentalen Wertewandel, der in der rassistischen und antisemitischen Politik des NS-Regimes zum Ausdruck kommt, zu relativieren und zu verharmlosen. Zudem fällt es in seiner Fokussierung auf das Regierungshandeln Hitlers und Görings, dessen Effizienz weit überschätzt wird, deutlich hinter den Stand der Forschung zurück.

Der Autor ist Professor für Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität.

Dieses Buch bestellen Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 464 Seiten, 22,90 €.

Ludolf Herbst

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