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Kultur: Jeder Fall ist anders

Kirchner und kein Ende: Warum die Restitutionsfrage neu bewertet werden muss. Eine Erwiderung / Von Bernd Schultz

Die Restitution des Gemäldes „Berliner Straßenszene“ von Ernst Ludwig Kirchner im letzten Sommer sorgt weiterhin für erregte Debatten. Am 8. November 2006 wurde das Bild bei Christie’s in New York zum Rekordpreis von 38, 1 Millionen Dollar versteigert. Michael Naumann, früherer Kulturstaatsminister, hat im Tagesspiegel (29. 4.) die Rückgabe des Kirchner-Werks durch den Berliner Senat an Nachkommen des jüdischen Fabrikanten und Sammlers Alfred Hess noch einmal verteidigt. Ihm antwortet Bernd Schultz, geschäftsführender Gesellschafter des Berliner Auktionshauses Villa Grisebach. (d.Red.)

Michael Naumann hat die Potsdamer Konferenz über die so genannte Restitutionsfrage zum Anlass genommen, den Fall Kirchner aus seiner Sicht darzustellen. Herausgekommen ist dabei eine Mischung aus Emotion und Polemik, in der alle die kritischen Fakten, die in der Zwischenzeit durch den Freundeskreis des Brücke-Museums, die kunsthistorische und juristische Forschung zutage gefördert worden sind, völlig ignoriert werden. Stattdessen zitiert Naumann die unter seiner Ägide als Kulturstaatsminister erstellte „Handreichung“ von 2001, als sei sie eine undiskutierbare moralische Richtschnur. Sie wird inzwischen von den meisten Fachleuten für untauglich gehalten, jene „faire und gerechte Lösung“ zu befördern, die in Washington gefordert wurde. Die Beschlüsse von Washington standen weder bei mir noch bei den anderen Kritikern des Kirchner-Falls zur Diskussion. Denn dort ging es um beschlagnahmte und bis dato noch nicht wieder aufgefundene Werke. Im Fall Hess kann aber von staatlichem Kunstdiebstahl im Sinne der Washingtoner Konferenz keine Rede sein.

Wir wissen inzwischen aus der minutiösen Forschung über die Firmengeschichte der Schuhfabrik Alfred Hess, dass nicht die NS-Diktatur, sondern unternehmerische Fehlentscheidungen zu Zeiten der Weimarer Republik noch vor der Weltwirtschaftskrise den Ruin ausgelöst haben. Die Familie Hess besaß spätestens 1932 keinerlei Vermögen mehr, sondern stand vor einem exorbitanten Schuldenberg. Die Kunstsammlung war ihr – offensichtlich nicht zur Gläubigermasse gehörender – finanzieller Strohhalm, der die Familienexistenz sichern musste. Sonst hätte sich Alfred Hess nicht 1930 von seinem wichtigsten Sammlungsstück getrennt: Ernst Ludwig Kirchners „Potsdamer Platz“, heute Neue Nationalgalerie Berlin, das in der kunstgeschichtlichen Bedeutung noch vor der „Straßenszene“ des Brücke-Museums rangiert. Wir wissen auch, dass 1937 der Kaufpreis für die „Straßenszene“ weit über dem tatsächlichen Verkehrswert des Gemäldes lag. Und wir wissen, dass nicht ein einziges Indiz dagegen spricht, dass der Erwerber Carl Hagemann Thekla Hess die Kaufsumme gezahlt hat.

Aber Naumann interessiert sich gar nicht für die Details der Sammlungsgeschichte Hess. Sonst müsste er zugeben, dass in diesem Fall die historische Moral ganz anders liegt: Ein integrer Mäzen, väterlicher Freund Ernst Ludwig Kirchners, half der Hess-Familie durch einen bewusst überhöhten Kaufpreis und zeigte damit zugleich dem verfemten, schwer depressiven Künstler demonstrative Solidarität – was die informierten Zeitgenossen sehr genau wahrgenommen und schriftlich auch kommentiert haben. Also von Kunstdiebstahl kann keine Rede sein. Und ungeklärt, ein Vorgang der seit der Eigentumsübergabe der Öffentlichkeit bekannt ist?

Die „Straßenszene“ von Ernst Ludwig Kirchner ist deshalb eben kein Restitutionsfall. Die Ansprüche der Hess-Nachfahren waren schlicht unberechtigt. Die Sache Kirchner-Hess-Hagemann beweist: Jeder Restitutionsfall ist anders. Mit den „idealtypischen Abläufen“ von Michael Naumanns „Handreichung“ ist die komplexe historische Wahrheit nicht zu fassen. Gerade deshalb ist es unumgänglich, sowohl die eigentumsrechtlichen als auch die historisch-moralischen Elemente eines jeden Falles sorgfältig und detailliert zu prüfen.

Naumann macht es sich bewusst einfach. Er stellt in schlechter deutscher Tradition „Moral“ und „Recht“ gegeneinander und schämt sich nicht einmal, ein von derVerfassung eingesetztes Organ der demokratischen Rechtspflege wie die Staatsanwaltschaft als „Instrument des deutschen Obrigkeitsdenkens“ zu denunzieren. Die Hansestadt Hamburg darf darauf gespannt sein, wie ein Bewerber um ihr höchstes Amt mit der Unabhängigkeit der Justiz umzugehen gedenkt. Neugierig wäre ich auch, was Naumann zu dem bis heute unwidersprochenen Gutachten des Berliner Verwaltungsrichters Kiechle über den Fall Kirchner („Frankfurter Allgemeine“ vom 7. Februar) sagt, dessen Fazit eindeutig ist: „Dass Restitutionen gut gemeint sind, reicht nicht. Das Gutgemeinte ist auch hier der Feind des Guten, das nur in einer tragfähigen juristischen Grundlage bestehen kann. Um es noch deutlicher zu sagen: Die im August in Berlin erfolgte Rückgabe des Kirchner-Bildes war rechtswidrig.“

Rechtswidrigkeit ist in einer Demokratie auch unmoralisch. Um dieser Wahrheit nicht ins Gesicht zu sehen, fährt Naumann schwere Geschütze auf: Wer mit der unprofessionellen, ja unverantwortlichen Geschäftsführung des Berliner Senats unzufrieden ist, wer fordert, dass Vorgänge von solcher kulturellen Bedeutung öffentlich verhandelt und demokratisch legitimiert werden, den stellt Naumann in die Ecke der Ewiggestrigen.

Ausgerechnet diejenigen, die geduldig nach der historischen Wahrheit im Fall Hess geforscht haben, weil dies die damalige Berliner Kulturstaatssekretärin Barbara Kisseler sträflich unterlassen hatte, werden von Naumann der „Erosion des Vergessens“ bezichtigt. Und der Skandal Filbinger-Oettinger, so wenig er irgendetwas mit der Sache zu tun hat, kommt ihm als Gesinnungsparallele gerade recht.

Steckt hinter dem gewaltigen Wortaufwand nicht etwas ganz Banales? Ein Politiker hat schlechte, nicht praxistaugliche Empfehlungen zu verantworten, die in der Hand einer schlampigen Berliner Behörde zu einer krassen Fehlentscheidung mit verheerenden Folgen geführt haben. (Selbst bedeutende jüdische Kunsthändler in New York, die den Vorgang mit größter Aufmerksamkeit verfolgt haben, kommentierten den Verlust des Gemäldes mit den Worten: „Ihr hättet dieses Kunstwerk niemals hergeben dürfen, ja auch nicht müssen!“)

Der Politiker Naumann empört sich jetzt darüber, dass man ihm eine Mitverantwortung an dem Kirchner-Desaster gibt. Und statt selbstkritisch zur Verbesserung seiner Handreichung beizutragen, fällt er lieber über alle Kritiker her und unterstellt ihnen historisch-moralische Blindheit, schlechten Stil, ja Unanständigkeit. Davon werden sich aufgeklärte Bürger nicht einschüchtern lassen. Die seit einem Dreivierteljahr anhaltende leidenschaftliche Diskussion über den Fall Kirchner hat erfreulicherweise dazu geführt, dass die Öffentlichkeit in der Zwischenzeit sehr viel präziser über die Restitutionsproblematik nachdenkt. Michael Naumanns Rundumschlag ist dagegen ein deutlicher Rückschritt. Aber wenn er die Auseinandersetzung befördert, hat er vielleicht sogar etwas Gutes. Dafür bin ich ihm dankbar.

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