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Kultur: Jeder Song ist ein Flirt

Tori Amos hat sich für ihr neues Album in fünf Frauenfiguren gespalten. Wie das geht? Ein paar Antworten

Miss Amos, auf „American Doll Posse“ wechseln Sie ständig Ihren Charakter. Wie fühlen Sie sich heute – wie Pip, wie Isabel, wie Clyde, wie Santa oder wie Tori?

Lustige Frage. Wenn ich mich in dieses Projekt hineinbegebe, bin ich eine Leinwand und gestatte mir, mich von den vielen Energien, die da im Spiel sind, steuern zu lassen. Hier mit Ihnen zu sprechen, ist auch ein Versuch, objetiv zu sein. Da muss ich die Mädchen raus halten.

Sie haben schon zuvor mit unterschiedlichen Frauenfiguren gespielt, vor allem auf dem Cover-Album „Strange Little Girls“. Warum die Rollenspiele?

Ich bin überzeugt, dass wir auf das Image, das wir wählen, nicht festgelegt sind. Für Männer kann ich nicht sprechen, aber viele Frauen, die ich kenne, haben eine Wahl getroffen, wie sie sich zeigen – auf der Arbeit, bei ihrer Mutter, wenn sie ausgehen. Im Inneren sind sie gehemmt, die Frau, die sie sind, zu entdecken und nach außen zu tragen. Wenn sie das täten, würde sich ihre Außenwirkung stark ändern. Aber meist erlauben wir uns das nicht, weil uns die Gefühle unserer Nächsten stark beeinflussen.

War das mal anders?

Da die katholische Kirche 1500 Jahre das Sagen hatte, waren Frauen auf die Rolle der Mutter festgelegt. Noch immer entdecken wir manchmal nicht die Tiefe in uns. Deshalb begab ich mich in die griechische Mythologie, die Zeit einer viel reicheren Kultur. Die Frauenfiguren waren viel stärker ausgeprägt und toleriert als in dieser puritanischen christlichen Kultur, wo Sexualität, Spritualität und Intellekt getrennt sind.

Vor 15 Jahren schafften Sie mit dem Album „Little Earthquakes“ den Durchbruch. Letztes Jahr haben Sie mit „A Piano – The Collection“ eine Sammlung unveröffentlichter Aufnahmen herausgebracht. Das wirkte wie der Abschluss einer Ära.

„A Piano“ versammelt viele verschiedene Arten, mich auszudrücken, die ich über die Jahre erkundet habe. Das neue Album kommt nicht zufällig danach. Es besteht aus vielen Ausdrucksarten auf einmal. Nachdem ich Mutter geworden war, hatte sich mit den letzten beiden Alben ein Kreis geschlossen. Jetzt beginnt ein neuer, wo er hinführt, weiß ich nicht.

Sie machen jetzt Dancemusic.

Oh, ich mache alle Arten von Musik!

Gemeint ist die erste Single, „Big Wheel“. Sie hat Rock-Besetzung mit Piano, aber der Rhythmus würde auch gut in ein Missy-Elliot-Stück passen.

Das hat mir viel Spaß gemacht. Es ist früh morgens entstanden, ich hatte es im Kopf, als ich aufwachte, und rannte gleich ans Piano. Matt, ein wunderbarer Schlagzeuger, verstand es auf der Stelle und spielte diesen Rhythmus.

Nutzen Sie das Zappen durch die Stile auch, um patriarchale Produktionen von Weiblichkeit zu entlarven – wenn Sie zum Beispiel einen Rhythmus verwenden, zu dem üblicherweise Frauen auf MTV ihre Hintern schütteln?

Von verschiedenen Stilen beeinflusst zu werden, ist wie ein Flirt, es ist wie mit einem neuen Geliebten. Die Vorstellung, ein Leben lang nur eine Liebe zu haben, ist für eine Musikerin tragisch, denn das würde bedeuten, dass du nur einen winzigen Teil von dem kennen gelernt hast, was Musik kann. Als Komponistin drängt es mich zu anderen Formen als nur dem Singer-Songwriter-Format. Das habe ich schon so lange gemacht und immer geht es darum, überflüssige Arrangements zu vermeiden. Diesmal wollte ich die Musiker die Stücke so weit bringen lassen, wie sie konnten, dann kamen die Mädchen hinzu und sangen. Wir mussten mit fünf Frauen umgehen. Es war klar, dass sie extreme Seiten zeigen würden.

Es ist auch viel E-Gitarre zu hören.

Ja, die Songs wollten das.

Die Platte eröffnet mit einem bitteren Appell an den Präsidenten und endet mit der Anti-Kriegs-Hymne „Dark Side Of The Sun“. Ein Protestalbum?

Ich denke, man kann sich nicht „American Doll Posse“ nennen, ohne sich damit auseinandersetzen, wo Amerika gerade politisch steht. Aber damit sprechen wir nur einen Teil des Körpers an, das Denken. Dann gibt es natürlich auch Santa,...

...angelehnt an Aphrodite, die Göttin der Liebe...

...die ins Zimmer marschiert und ruft: Los, wo ist der Champagner? Bringt die Leute in Bewegung!

Nachdem Sie vor sechs Jahren Mutter geworden waren, klang Ihre Musik zuletzt zahmer. Wie viel ist übrig von der einstigen Exzentrikerin?

Ich hatte damals eine Energie entdeckt, die ich noch nicht kannte, einen sehr seelenvollen Ausdruck, frei von Wut. Es war Zeit für mich, Musik aus diesem Blick zu schreiben. Dann wurde Tash alt genug, um zu verstehen, dass Mami und die Künstlerin zwar dieselbe Person sind, aber Mami für eine persönliche Beziehung steht, und dass sie keine Angst haben muss, mich auf die Bühne gehen und in einer Energie singen zu sehen, die ihr fremd ist.

Sie sprechen manchmal auch von Ihren Stücken wie eine Mutter: Die Ideen kommen und sprechen zu Ihnen, und Sie kümmern sich um sie.

Lieder werden sehr schnell erwachsen. Bevor du es merkst, leeren sie eine Flasche Tequila und tragen High Heels. Du erlebst den Anfang, und dann sind die Stücke plötzlich aufgenommen und sagen: Tschüss, wir gehen jetzt.

Sie haben eine Vergewaltigung und einige Fehlgeburten erlebt – was wäre, wenn Sie nicht die Möglichkeit gehabt hätten, sich über Musik auszudrücken?

Ich fühle mich nicht geschwächt durch diese Erfahrungen. Ich habe hart daran gearbeitet, mit ihnen fertig zu werden. Aus zerstörerischen Situationen kannst du dich befreien, indem du etwas erschaffst. Wenn du kein Musiker bist, musst du andere Wege finden, kreativ zu sein, sei es im Garten zu arbeiten oder zu schreiben. Für mich ist es Musik.

Worauf könnten Sie am schwersten verzichten?

Musikerin zu sein, dafür würde ich wirklich alles andere aufgeben.

Und materielle Dinge?

Lippenstift. Ich kann nicht ohne.

Das Gespräch führte Kolja Reichert

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