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Kümmert sich um Flüchtlinge aus Afrika. Die Berliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, 48.

© Mauritius/Alamy

Jenny Erpenbeck im Interview: „Hinter der Ordnung verbirgt sich Angst“

Sie ist nominiert für den Deutschen Buchpreis, der heute Abend in Frankfurt verliehen wird: Jenny Erpenbeck spricht im Interview über ihre Roman-Recherchen, die Flüchtlingskrise und die Sorgen der Europäer.

Frau Erpenbeck, Ihr Roman beginnt damit, dass der Held, ein emeritierter Philologie-Professor, eines Tages den Flüchtlingen vom Berliner Oranienplatz begegnet und sich plötzlich intensiv mit deren Leben beschäftigt. Wann begann bei Ihnen die Auseinandersetzung mit der Flüchtlingskrise?

Ich habe schon längere Zeit, sieben oder acht Jahre lang, mit dem Gedanken gespielt, über Flüchtlinge zu schreiben. Mich hat immer interessiert, wie diese Menschen damit umgehen, dass sie ihr früheres Leben verloren haben und dann ein völlig neues Leben ganz woanders beginnen müssen.

Gab es einen aktuellen Auslöser?

Im Herbst 2013 starben bei einem Schiffsunglück auf dem Mittelmeer über 400 Flüchtlinge. Ich konnte mir schon damals vorstellen, was das heißt. Auch wenn es zu der Zeit noch kein solches Foto gab wie das von dem ertrunkenen Jungen am türkischen Strand. 

Sie haben von dem Schiffsunglück aus den Medien erfahren?

Ja. Und was mir dann keine Ruhe ließ, war die Reaktion der Deutschen auf dieses Unglück. Die Betroffenheit war verhältnismäßig gering, wenn es überhaupt so etwas wie Betroffenheit gab. Der Tod so vieler Menschen schien kaum jemanden tangiert zu haben, es wurde in den Medien geradezu unheimlich schnell zur Tagesordnung übergegangen. Diskutiert wurde nur, dass wir in Zukunft doch nicht alle Flüchtlinge aufnehmen können – so als hätte Europa mit den Toten erpresst werden sollen. Es war, als hätte sich eine Art von Schuldbewusstsein geradewegs in Aggressivität verkehrt. Wenn Europäer sterben, wenn Deutsche bei einem Unglück unter den Opfern sind, ist die Empathie immer eine ganz andere. Aber das Sterben hat doch keine Nationalität.

Doch ist es nicht verständlich, dass es zunächst eine gewisse Verdrängung gab, dass man sich sowieso nicht tagtäglich mit dem Elend überall auf der Welt auseinandersetzen möchte?

Es ist eine Überforderung, vielleicht. Aber gerade das ist das Interessante. „Wir kommen an unsere Grenzen“, heißt es jetzt oft. Und genau das ist es. Auch wir müssen über unsere Grenzen hinaus. Wir sehen ja inzwischen, dass die Probleme aus anderen Ländern uns erreichen und plötzlich unsere eigenen Probleme werden. So ein Buch schreibt man ja nicht aus purem Mitleid. Mich hat interessiert, warum das Leben solcher Menschen weniger wert sein soll – diese abweisende Haltung der Europäer. Und die Haltung ist ja in den Gesetzen zementiert: Nicht jedes europäische Land muss sich zuständig fühlen, dafür gibt es die Dublin-Regelung, die den Flüchtlingen die Gründung einer Existenz nur in den Ländern ermöglicht, in denen sie zufällig angekommen sind. Was natürlich absurd ist.

"Die Abwesenheit der Frauen in meinem Roman ist ein wunder Punkt"

Kümmert sich um Flüchtlinge aus Afrika. Die Berliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, 48.
Kümmert sich um Flüchtlinge aus Afrika. Die Berliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, 48.

© Mauritius/Alamy

Wie haben Sie recherchiert?

Ich bin, wie mein Held Richard, anfangs einige Male zum Oranienplatz gegangen, kurz vor der Räumung, war auch einmal in der Gerhard-Hauptmann-Schule. Im Frühjahr 2014 habe ich dann begonnen, mit den Flüchtlingen Gespräche zu führen, nachdem sie nach der Vereinbarung mit dem Berliner Senat zunächst auf drei Heime verteilt worden waren. Eins davon war bei mir in der Nähe, im Wedding – aber ziemlich bald sind sie ins hinterste Neukölln gekommen, und nach einigen Monaten dann schließlich ganz aus dem System rausgeflogen, also auf die Straße gesetzt worden.

Und die Flüchtlinge waren alle gesprächsbereit, haben Ihnen sofort ihre Lebensgeschichten erzählt?

Nein, natürlich nicht alle, aber es gab einige, mit denen habe ich wieder und wieder Gespräche geführt. Oft drei, vier Stunden lang – durchaus keine leichte Konversation. Diese Menschen haben große Lebenserfahrung, sind sehr ernst, sehr nachdenklich. Und sie haben es vielleicht auch als Chance gesehen, dass sich hier überhaupt jemand für ihre Lebensgeschichte interessiert. So viele Möglichkeiten, mit der Welt hier in Kontakt zu kommen, gibt es für sie ja nicht. Andere wollten mir ihre Geschichten nicht erzählen, das Sprechen kostet ja auch Überwindung. Wieder andere haben mich nur um Hilfe in ganz praktischen Dingen gebeten: Formulare ausfüllen zu helfen, sie zu Ämtern zu begleiten etc.

Haben Sie die Gespräche auf Band aufgenommen?

Das hätte ich gern, weil allein die Art, wie erzählt worden ist, mich oft sehr beeindruckt hat. Aber ich hatte den Eindruck, das gehöre sich irgendwie nicht. So ein Gespräch ist eine sehr fragile Sache, und ein Aufnahmegerät vermittelt immer eine gewisse Distanz. Ich habe stattdessen viele, viele Notizbücher vollgeschrieben.

In welcher Sprache haben Sie sich verständigt?

Auf Englisch. Am Anfang musste ich mich in die verschiedenen Akzente erst einhören, aber nach wenigen Tagen war das gar kein Problem mehr.

Sie haben sich also wie ihr Held richtiggehend in die Herkunftsgeschichte der meisten eingearbeitet, sich vertraut gemacht mit der ihnen fremden Welt?

Ja. Vor allem ging es mir darum, das Essentielle an den Geschichten herauszuarbeiten. Einer hat zum Beispiel gesagt, er sei durch den Verlust seines früheren Lebens sich selbst ein Fremder geworden. Ein anderer stellte die Frage, warum es auf der ganzen weiten Welt tatsächlich keinen Platz gebe, wo er sich in Ruhe zum Schlafen hinlegen kann. Es geht um Lebenszeit, um Erinnerung, aber auch um die Hoffnung, dass etwas von uns bleiben wird. 

In Ihrem Buch sind die Flüchtlinge, mit denen ihr Held spricht und um die er sich kümmert, alles Männer. Flüchtlingsfrauen spielen bei Ihnen keine Rolle. Warum?

Ja, die Abwesenheit der Frauen ist ein wunder Punkt. Es gibt eine große Einsamkeit in dem Buch auch dadurch. Dass verhältnismäßig wenige Frauen nach einer Flucht hier ankommen, liegt wahrscheinlich daran, dass es unterwegs so viele Schwierigkeiten gibt, die von Frauen schwerer zu bewältigen sind, und es gibt Gefahren und Entbehrungen, denen Frauen sich gar nicht erst aussetzen, weil sie wissen, dass sie das nicht überleben würden. In der Gerhart-Hauptmann-Schule gab es allerdings eine Etage, die haben die Flüchtlingsfrauen für sich reklamiert, einen sogenannten „womens space“. Das fand ich beeindruckend. Aber oft schienen mir die Frauen nicht so reflektiert zu sein wie die Männer. Einmal hat eine Ghanaerin einige Tage bei mir gewohnt. Ihre größte Hoffnung war, hier zu heiraten und dann Kinder zu bekommen. Sie hat sich gar nicht zugetraut, eine selbstbestimmte Existenz zu führen.  

Nun stellt sich die Frage: Wie haben Sie geschrieben, Ihren Roman konzipiert? Hatten Sie keine Angst, dass das bloß eine Sozialreportage werden könnte?

Sozialreportagen sind ja auch etwas Schönes. Aber darum geht es ja nicht. Es geht bei mir tatsächlich um das Um- und Ineinanderschichten dieser beiden Welten, unserer und der der Flüchtlinge, nicht nur um das „Auffädeln“ von Fluchtgeschichten oder Berichten „aus der dunklen Welt des Asylbewerberheims“. Es geht mir um das, was in der Unsichtbarkeit gehalten werden soll, und dennoch - oder gerade deshalb - Kraft hat, die ganze sichtbare Welt zu verwandeln. Klar, dieser ganze bürokratische Kram, die Asylgesetzgebung, das Dublin-Abkommen, das musste auch ins Buch und war manchmal recht anstrengend. Das liest man ja nicht einmal in Sozialreportagen gern. Und man darf nie vergessen: Die Gesetzgebung greift in individuelle Biografien ein. Das ist ja auch das Problem bei Politikern: Es heißt immer, sie dürften auf Einzelschicksale keine Rücksicht nehmen, aber genau darum geht es. Sich bewusst zu machen, dass da Tag für Tag Leute auf Matratzen sitzen und sich fragen, ob sie sich heute einen Strick nehmen sollen – oder vielleicht doch noch einen Tag länger durchhalten. Das ist die existentielle Dimension bei jedem Einzelnen.

Manchmal wirkt ihr Buch sehr realistisch, man meint, den Bauplan genau mitlesen zu können.

Dann wissen Sie mehr als ich. Wenn ich überhaupt so etwas wie einen Bauplan hatte, ist er mir doch immer wieder durch die Ereignisse umgeworfen worden. Das war ja wachsendes Material, buchstäblich lebendiger Stoff! Retten tut einen da nur die Berufskrankheit des Schriftstellers: Dass er Nähe und Distanz gleichzeitig haben kann. Auch die Gegenwart wird, mit einer kleinen Verspätung von fünfzig Jahren, einmal Vergangenheit sein.  

Warum ist ihr Held schon so alt?

So alt ist er nun auch wieder nicht. Er ist Ende 60. Aber er ist am Ende seines Arbeitslebens natürlich anders mit seiner eigenen Vergänglichkeit konfrontiert. Und an diesem Punkt trifft er sich in seinem Nachdenken mit den Flüchtlingen, die die Erfahrung eines Übergangs, der leicht auch hätte ihr Tod sein können,  gemacht haben. In diesen Übergang sind sie ja letztendlich auch nach ihrer Ankunft in Europa, drei Jahre später, noch immer eingesperrt.

Richard wirkt aber sehr lebendig –  wie jemand, der sich viel traut, der was ganz Neues beginnt, dann aber wieder seine Ordnung braucht, seine Regeln.

Ja, wenn man Richard beobachtet, scheint es offensichtlich, dass Ordnung zu einem Gutteil aus Angst kommt. Richard hat als Kleinkind noch das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt, später den Umbruch von DDR zur Bundesrepublik. Er schätzt sehr, dass seine Welt überschaubar ist, ordentlich. Es gibt ja wirklich so lange wie noch nie Frieden hier in Deutschland, und den Deutschen geht es sicher besser als den meisten Leuten in der Welt. Selbst der Mauerfall ist ohne Blutvergie?en vonstatten gegangen. Die Vorstellung, dass etwas ins Kippen kommen könnte oder uns sogar entgleitet, erfüllt uns dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, mit größtem Schrecken. Der Frieden vermindert also vielleicht gar nicht die Angst, sondern vermehrt sie. Unter der Decke der Ordnung wartet die Angst sozusagen auf ihre Stunde. Das ist doch interessant. Für die Flüchtlinge dagegen ist schon alles gekippt, sie sind durch die Erfahrung des Krieges, der Lebensgefahr, des Verlusts hindurchgegangen. Richard begreift, dass er da etwas lernen kann.

"Ich will die Grenze zwischen meiner und der Welt der Flüchtlinge etwas durchlässiger machen"

Kümmert sich um Flüchtlinge aus Afrika. Die Berliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, 48.
Kümmert sich um Flüchtlinge aus Afrika. Die Berliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, 48.

© Mauritius/Alamy

Glauben Sie, dass es uns hier in Deutschland, in Westeuropa zu gut geht?

Das ist schwierig zu beantworten, es ist ja nichts Verwerfliches daran, dass es einem gut geht. Ich selbst aber habe immer das Gefühl, dass die Dinge nicht so bleiben werden, wie sie sind. Ich halte immer für möglich, dass sich noch einmal alles verändert. Ich habe da diese Vision von Bürotürmen mit hochmodernen Glasfassaden, deren Fenster plötzlich zersplittern und in einem herrlichen Regen aus Scherben nach unten rauschen, und dann stehen da hinterher nur noch die Betongerippe. Schon als Kind habe ich immer geglaubt, dass es mir nicht mein ganzes Leben über so gut gehen wird, dass ich nicht immer ein Bett zum Schlafen haben werde, nicht immer in einer netten, geheizten Wohnung leben werde usw. Vielleicht kann ich mir deswegen so gut vorstellen, wie es den Flüchtlingen geht. Ich glaube, sie sind näher dran an dem, was wirklich passiert. Ich finde die Welt, in der wir leben, hier in Deutschland, oft völlig irreal.

Hat sich der Blick auf die Welt für Sie beim Schreiben verändert?

Es ist mir vielleicht gelungen, für mich selbst dieses Existieren in einer heilen Parallelwelt etwas aufzubrechen. Die Grenze zwischen meiner und der Welt der Flüchtlinge etwas durchlässiger zu machen.

Haben Sie noch Kontakt zu Ihren Gesprächspartnern, den vielen anderen Helden Ihres Buches?

Aber ja, die ungefähr acht oder zehn Afrikaner, mit denen ich im Laufe des letzten Jahres so viel zusammen erlebt habe, kommen natürlich immer noch regelmäßig bei uns vorbei.  Die werden nicht wieder „zur Adoption freigegen“, nur weil das Buch fertig ist. (Lacht). Einen habe ich in der Fahrschule angemeldet, ein anderer bekommt Gitarrenunterricht usw. Wenn sich der Berliner Senat nicht zuständig fühlt, muss doch in deren Leben dennoch irgendetwas vorangehen.

Fühlen Sie sich durch die Wahl Ihres Romanstoffes bestätigt durch die aktuelle Krise?

Um Bestätigung geht es ja nicht. Ich versuche, über Dinge zu schreiben, für die es keine Lösung gibt, die eine Überforderung sind – und mit denen man dennoch umgehen muss. Dass die Flüchtlingsproblematik eine solche Sache ist, liegt jetzt tatsächlich auf der Hand. Es wäre sicher zu wünschen, dass die Leser nach der Lektüre des Buches etwas besser verstehen, worin die konkreten Probleme eines Lebens als sogenannter „Illegaler“ bestehen, was an den europäischen und an den deutschen gesetzlichen Regelungen problematisch und der Situation einfach nicht angemessen ist. Es wäre schön, wenn nicht immer nur überlegt würde, mit welchen Tricks man Flüchtlinge ablehnen und aus dem Land schieben kann, sondern wenn es ein Bewusstsein dafür gäbe, dass solche Menschen auch eine Bereicherung für unsere Gesellschaft sein können.

Was viele nicht so sehen...

Es gibt doch inzwischen durchaus eine Gegenbewegung zu denen, die die Asylbewerberheime in Brand stecken. Nur leider ist das bis jetzt weitgehend eine Privatangelegenheit und kann sicher keine Dauerlösung sein. Für langfristige, gute Perspektiven müssten sicher einige Gesetze geändert werden, das Arbeitsverbot zum Beispiel ist eine ganz fatale Sache.

Über Literatur haben wir jetzt kaum gesprochen, stört Sie das nicht, als Schriftstellerin?

Fragen Sie mich doch nach Ovid, dann reden wir ganz viel über Literatur… Aber ich finde wirklich, dass das, worüber ich geschrieben habe – diese beiden ineinander verschachtelten Welten, unsere und der der Flüchtlinge, und das Thema der sichtbaren und unsichtbaren Grenzen – das hat, selbst wenn man nur über die Fakten spricht, eine ganz grundlegende Dimension. Ich kann doch mich als politisch denkenden Menschen nicht von mir als einer Schreibenden trennen. Ganz im Gegenteil. Wenn mich manche Dinge als Mensch nicht so betreffen würden, würde ich nicht schreiben. Meine Bücher entstehen doch, weil ich mit meinem Verständnis an Grenzen komme und mir das keine Ruhe lässt.

Das Gespräch führte Gerrit Bartels

Jenny Erpenbecks Roman "Gehen, ging, gegangen" ist im Knaus Verlag erschienen, München 2015, hat 352 Seiten und kostet 19, 99 €

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