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Klassische Stadtverdichtung. Ein Blick über die Hausdächer der Altstadt von Jerusalem.

©  Bernhard Schulz

Jerusalemer Kulturfestival „Mekudeshet“: Dach der Welt

Übernachten auf Dächern, selbstbewusste Frauen in ultraorthodoxer Nachbarschaft: Das Jerusalemer Kulturfestival „Mekudeshet“ verteidigt die Vision der offenen Stadt.

In diesem Sommer gedenkt Israel des Sechs-Tage-Krieges von 1967, der nun ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Dieser Krieg war enorm folgenreich. Denn mit der Besetzung von Ost-Jerusalem erhielten Israelis erstmals seit der Staatsgründung Zugang zur Klagemauer, der heiligsten Stätte des Judentums, und die Vision des einen, unteilbaren Jerusalem als der Hauptstadt des jungen Staates bekam reale Konturen. Es begann die Entwicklung aus dem ursprünglich zionistischen, säkularen Land in die heutige, zunehmend religiös geprägte Gesellschaft.

Wenige Wochen nach den Feiern zum 50. Jahrestag dieser so identitätsstiftenden Rückeroberung ist in Jerusalem davon allerdings nicht viel zu bemerken. Eine Ausstellung des 1930 in Berlin geborenen „Magnum“-Fotografen Micha Bar-Am, der 1967 an vorderster Front dabei war, zeigt im Israel Museum – dem Nationalmuseum des Landes – beide Seiten des Krieges, die siegreichen Soldaten und ersten Beter an der Tempelmauer wie die aus ihrem gewohnten Leben jäh gerissenen Bauern Palästinas.

Ansonsten herrscht entspannter Frieden in Jerusalem; kein Vergleich mit den aufflackernden Unruhen vergangener Jahre um den Tempelberg. In dieser Atmosphäre findet das alljährliche Kulturfestival Mekudeshet statt (bis 15. September, mekudeshet.com), das sich mehr und mehr zu einer Manifestation des liberalen, weltoffenen Jerusalem gegen die Beschränktheit einer ultraorthodoxen Ausrichtung der Stadt entwickelt hat. Dabei spielt der Name Mekudeshet – so viel wie „heilig, geheiligt“ – sehr wohl darauf an, dass in Jerusalem, diesem Hauptort dreier Weltreligionen, nichts ohne diesbezügliche Bedeutung vonstatten geht.

Auf den Dächern spielt sich das alltägliche Leben ab

Zum Beispiel die Dächer. Alle Häuser haben Flachdächer. Auf ihnen spielt sich alltägliches Leben ab, vielmehr war es in früheren Zeiten so, als es noch keine Klimaanlagen gab. Zahlreiche Veranstaltungen des Festivals – das unter dem neutralen Dach der „Jerusalem Season of Culture“ verankert ist – haben die Wiedereroberung der Dächer zum Ziel, nicht zuletzt als eine Wiedergewinnung der verloren gegangenen Grundfläche besagter Häuser in einer stark wachsenden Stadt.

Die Altstadt, dieses von den gewaltigen Mauern der osmanischen Zeit umschlossene Geviert, birgt die größten Überraschungen. Nicht nur, dass die Kids über die zusammenhängende, von Höhensprüngen gekennzeichnete Dachlandschaft turnen. Es gibt sogar reguläre Wege, über die der Kundige dem Geschiebe der ebenerdigen Basarstraßen entkommt. Wo sich eine solche Wegführung zu einer ausgedehnten Dachfläche weitet, lässt Gili Avissar einhundert Fahnen aufreihen und abends in einem geheimen Ritual von Trägern gemessenen Schrittes zusammentragen. Die Klangkulisse kommt frei Haus als Bläserkonzert vom Glockenturm der Lutheranischen Kirche – eines der Geschenke Kaiser Wilhelms II. an die Stadt, der er 1898 seine Aufwartung machte – oder anschließend als Sprechgesang von den Minaretten der Moscheen, während die Sonne rotgoldene Abendstimmung zaubert.

In West-Jerusalem hingegen sind es die Dächer eines halb leer stehenden Einkaufszentrums in schlimmstem Betonbrutalismus, auf denen neben Urban Gardening geheimnisvolle Performances zelebriert werden. Sharon Glazberg lässt cremefarben gekleidete Tänzer mal liegend, mal stehend über Plastikschläuche atmen, was einen in der Mitte aufgehäuften Lehmhügel rhythmisch aufwallen und zusammensinken lässt. Es handele sich um Erde vom Tempelberg, erfährt der überraschte Besucher, den die Frage umtreibt, wie diese doch hochsensible Materialbeschaffung gelingen konnte.

Das Festival will programmatisch „Grenzen auflösen“,

Ja, die Erde selbst kommt in Bewegung. Zumindest scheint es so bei der von Tom Pnini auf einem Dach gegenüber der Altstadt errichteten Vulkan-Attrappe, deren weißer Rauchausstoß erst abends einigermaßen sichtbar wird. Keinem der zahlreichen Passanten am Beginn der Jaffa-Straße, der Flanier- und Vergnügungsmeile der Stadt, scheint allerdings das Schauspiel aufzufallen. Auf einem weiteren Dach schräg gegenüber hat sich Rafram Chaddad niedergelassen und zieht rasch wachsende Gerste, die er seinen Besuchern in Teigtaschen verabreicht, dabei über vorangehende Aktivitäten in Leipzig oder Palermo plaudernd. Food Art findet ein kenntnisreiches Publikum, zumal in Israel, wo gemeinsames Essen aufs Höchste geschätzt wird.

Natürlich gehört auch Übernachten auf Dächern zum Festivalprogramm. Eigentlich erstaunlich, hat man doch früher gern und häufig unter freiem Himmel genächtigt. Muss Kunst das Naheliegende erst wieder vermitteln? Auch im Tal des Kreuzes kann offenbar genächtigt werden, während von irgendwoher seltsame Klänge ertönen, deren von Amir Bolzman weiträumig verteilte Urheber aufzufinden nicht ganz einfach ist. Plötzlich erblickt man auf einem hölzernen Gerüst eine Art Ton-Zauberer, dessen über Antennen – oder sind’s Attrappen? – ausgesandte Wellen von herumstreifenden Lautsprecher-Trägern in schnarrende Töne verwandelt werden. Fahnen wehen auch hier wieder. Derlei kam vor Jahren in der Gegenwartskunst in Mode – man wähnte es bereits wieder abgehakt.

Das Festival will jedes Jahr programmatisch „Grenzen auflösen“, und man ahnt, was das in Jerusalem, dieser mehr denn je geteilten Stadt, auf sich hat. West und Ost, Israel und Palästina sprechen allenfalls kaum miteinander. Wie in Berlin hinlänglich geübt, fällt der Musik eine vermittelnde Rolle zu. Im großräumigen Jerusalem Theatre spielt das Jerusalem Orchestra East & West, geleitet von Tom Cohen, kraftvolle Melodien aus dem Jemen, aus Bagdad, mit Liedern auf Arabisch und Hebräisch – Barenboim lässt grüßen.

Eigenwillige Projekte und bezaubernde Örtlichkeiten

Eine fünfstündige Rundfahrt im Kleinbus, organisiert von Moran Aviv-Dvir und untermalt mit orientalischen Klängen aus dem Kopfhörer, führt zu unterschiedlichen Initiativen wie einem Gründungszentrum in Ost-Jerusalem, das eine Businessfrau in nüchternem Souterrain-Ambiente betreibt, um ihre Landsleute aus ihrer Fundamentalopposition zu reißen, oder zu einer psychiatrischen Einrichtung, die Menschen mit nicht zuletzt religiös induzierten Ticks gerade nicht psychiatrisch behandelt, sondern als würdige Subjekte umsorgt. In einer ultraorthodoxen Nachbarschaft mit litauischen Wurzeln empfängt eine selbstbewusste Frau, die für den Stadtrat kandidiert, was in ihrer patriarchalischen Gemeinschaft unerhört genug ist.

Da blitzt denn mal ein bisschen politischer Diskurs auf. Davon ist ansonsten im Programm des übrigens vollständig staatsfernen, von einer im Hintergrund bleibenden Stiftung finanzierten Festivals wenig zu sehen. Die Organisatoren um Itay Mautner und Naomi Bloch Fortis finden zwar immer wieder eigenwillige Projekte und bezaubernde Örtlichkeiten. Doch es scheint nicht wirklich zu gelingen, die verhärteten Grenzen aufzulösen, die nicht nur zwischen West- und Ost-Jerusalem, sondern auch innerhalb dieser fragmentierten Gesellschaft verlaufen.

In diesem Jahr wird in Israel nicht nur des Sechs-Tage-Krieges gedacht, sondern auch des 120 Jahre zurückliegenden Basler Zionistenkongresses, auf dem Theodor Herzl seine Vision einer jüdischen Heimstatt im Nahen Osten verankerte. Eine Umfrage der angesehenen „Jerusalem Post“ unter Historikern wie Protagonisten des Zionismus ergab zumindest in einem Punkt Übereinstimmung: dass es nicht gelungen ist, Herzls Vision einer in jeder Hinsicht offenen Gesellschaft ausgerechnet hier, zwischen Mittelmeer und Wüste zu verwirklichen. Dazu kann auch das schönste Festival nicht mehr als Farbtupfer beisteuern. Die große Politik wird nun einmal anderswo gemacht.

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