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Von der Backgroundsängerin zur Diva. Die 28-jährige Jessie Ware.

© Universal

Jessie Ware: Halbgöttin aus Brixton

Kühle Schönheit: Jessie Ware veröffentlicht eines der besten Popalben des Jahres – und spielt erstmals in Deutschland.

Liegt es an der Sternenkonstellation? Ist dort irgendetwas im Wasser? Oder ist es einfach Zufall, dass in letzter Zeit so viel tolle Popmusik aus dem Süden von London kommt? Adele, Florence And The Machine, Burial, La Roux, SBTRKT, Lianne La Havas – sie alle leben in Stadtvierteln südlich der Themse. Genau wie die 28-jährige Jessie Ware, die vor kurzem ihr fantastisches Debütalbum veröffentlicht und die Liste damit noch verlängert hat.

An einem Donnerstagnachmittag spaziert die Sängerin durch einen Park in Brixton und lacht in ihr Mobiltelefon, als sie die Spekulationen über die Gründe für die Kreativexplosion ihrer Heimat hört: „Jeder fragt mich das, aber ich kann es nicht erklären. Vielleicht inspirieren wir uns gegenseitig. Wir sehen, dass jemand aus unserem Umfeld etwas macht und denken: Hey, das kann ich auch.“

Für Jessie Ware selbst lief es allerdings anders. Obwohl sie in Schulaufführungen erfolgreiche Solo-Auftritte absolviert, denkt sie nie: Popstar kann ich auch, sondern studiert erst einmal brav englische Literatur an der Sussex University und will dann Journalistin werden. Ihre erste Station ist der „Jewish Chronicle“ für dessen Online-Seiten sie kleine Berichte schrieb.

„Ich war nicht leidenschaftlich genug für den Journalismus,“ sagt die Tochter eines bekannten BBC-Reporters und einer Sozialarbeiterin rückblickend. So kommt es ihr nicht ungelegen, als 2010 der Singer-Songwriter Jack Peñate – noch so ein Südlondoner – anruft, um sie als Backgroundsängerin für eine Studiosession zu engagieren. Die beiden sind seit ihrer Schulzeit befreundet. Jessie Ware sagt zu und geht später mit Peñate auf Tour. Über ihn ergibt sich kurz darauf ein weiterer Nachbarschaftskontakt: Sie arbeitet mit dem Dubstep-Produzent SBTRKT zusammen, dessen Debütalbum zu den spannendsten elektronischen Veröffentlichungen des vergangenen Jahres gehört – auch dank Jessie Ware, die auf zwei Tracks singt.

Ihrem eigenen, von Dave Okumu stimmig produziertem Album „Devotion“ merkt man die Verwandtschaft mit dem hippen UK-Clubsound an, erkennbar etwa an den verschobenen und kompliziert geschichteten Beatstrukturen des Titelsongs, der gleichzeitig der Opener der Platte ist. Doch er führt ein wenig in die Irre, denn eigentlich ist die Zielrichtung eine völlig andere. Hier geht es um großen, zeitgenössischen Pop – fürs Radio, für den Mainstream, für alle.

Die Platte steckt voller großartiger Balladen und kluger Genreverschmelzungen. Schon die Singles „Running“ und „Wildest Moments“ bestechen durch ihre unmittelbare Verständlichkeit und Eingängigkeit. Es sind Instant-Hits, die man wieder und wieder hören möchte. Für diesen Effekt sind vor allem Wares betörende Melodien und ihre Stimme verantwortlich. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das in „Wildest Moments“, das sie fast alleine trägt. Bloß ein leicht übersteuerter Hip-Hop-hafter Beat und ein paar Synthie-Akkorde begleiten ihre melancholischen Zeilen über eine dysfunktionale Beziehung. Im Refrain singt sie: „Maybe in our wildest moment/ We could be the greatest, we could be the greatest/ Maybe in our wildest moments/We could be the worst of all“. Deutlich beschleicht den Hörer das Gefühl, dass die schlimmen Momente stärker sind als die, in denen die Lebenden sich für „großartig“ halten.

Noch sehnsuchtsvoller geht es in „Running“ zu – dem vielleicht perfektesten Stück des Albums. Es ist etwas dynamischer, voller instrumentiert und hat einen Achtziger-Jahre-Touch, ohne dabei in den derzeit üblichen Reenactment- Sound zu verfallen. Das gehört zu den Stärken der elf Stücke auf „Devotion“: Sie wollen nach Gegenwart klingen, nach 2012 und nicht nach 1982 – eine Ausnahme im aktuellen, von Retro-Seligkeit geprägten Pop. So ruft „Running“ zwar Erinnerungen an Sade wach, doch vieles klingt fundamental anders als bei der britischen Soul-Pop-Ikone: Angefangen bei den deutlich wuchtigeren Rhythmusspuren über die vom Keyboard kommenden Bläser-Akzente bis hin zu dem 20-sekündigen flackernden Gitarren- Solo – ein Part, den bei Sade eher das Saxofon übernommen hätte.

„Running“ wirkt, als hätte man Sade weitergedacht, ihren Sound in eine kühlere, technizistischere Zeit teleportiert. Das spiegelt sich auch im dazugehörigen Video, das Jessie Ware als Hommage an Sades „Smooth Operator“-Video von 1984 bezeichnet. Die Sängerin trug damals Pferdeschwanz, ein weißes Kleid und sang mit Band vor dem rot erleuchteten Bühnenhintergrund eines Nachtclubs, in dem ein offenbar mit ihr liierter Gangster seine Deals aushandelte und schließlich mit einer anderen Frau abzog. Über Sades Wange rollte eine Träne.

Jessie Ware hingegen ist ganz allein, trägt einen Dutt, Glitzerschmuck sowie ein hautenges schwarzes Kleid und wirft sich – auch vor einem roten Hintergrund – singend in Pose. Sie extrahiert quasi die Essenz der von Sade verkörperten Diva-Figur und zeigt sie als völlig unnahbare, elegante Halbgöttin. „Das Ganze ist absichtlich leicht over the top“, sagt Ware. Und eben dieses augenzwinkernde Element charakterisiert auch ihre sonstige Selbstinszenierungen. Sie trägt exquisite Kleidung, bewegt sich mit Anmut. Dabei bleibt jedoch immer spürbar, dass sie eine Rolle spielt, dass es ihr darum geht, eine Illusion zu schaffen und eine optische Entsprechung für den eleganten Pop zu finden. Anders als etwa bei Lana Del Rey, die sich in ihren Videos ganz ernsthaft als eine Art White-Trash-Königin gibt, schwingt bei Ware immer Humor mit. „Ein Musikvideo zu machen ist leicht lächerlich, gleichzeitig ist es aber auch fabelhaft. Ich versuche, dabei möglichst viel Spaß zu haben und möchte in zehn Jahren sagen können: Das war nett“, sagt sie und kommt dabei angenehm bodenständig und zugleich selbstbewusst rüber.

Sie weiß, dass sie ein brillantes Album aufgenommen hat, auf das sie stolz sein kann. Es bekam in England zahlreiche positive Kritiken, stieg bis auf Platz fünf der Albumcharts und wurde für den Mercury Prize nominiert. Dass Jessie Ware deswegen überschnappt, steht nicht zu vermuten. Dafür wird nicht zuletzt ihre Mutter Helena sorgen, der sie sehr nahe steht und die sie immer ermutigt hat, ihr Glück als Sängerin zu versuchen. Die Mutter beobachtet genau, was im Netz über ihre Tochter geschrieben wird und blafft auch schon mal dazwischen, wenn sie auf Twitter antisemitisch beleidigt wird.

Jessie Ware ist als mittleres von drei Kindern in Süd-London aufgewachsen. Es lief viel Musik bei ihr zu Hause, vor allem Soul: „Meine Mutter hörte Dusty Springfield und Stevie Wonder, mein Vater mochte gerne Jazz-Sängerinnen wie Ella Fitzgerald oder Billie Holiday. Ich habe als Kind viele Jazz-Standards gesungen, Gershwin, Cole Porter“, erinnert sich die Sängerin. Als Vorbilder nennt sie Whitney Houston, Chaka Khan, Sade und Annie Lennox.

Auch für Hip-Hop begeistert sie sich seit ihrer Teenager-Zeit, ein Einfluss, der auf „Devotion“ in dem Song „110%“ zu hören ist. Er beginnt mit der gesampleten Zeile „Carving my initials on your forehead“ aus dem Song „The Dream Shatterer“ des 2000 verstorbenen Rappers Big Pun, dessen Stimme einige Lagen tiefer gepitcht wurde. Dadurch entsteht ein reizvoller Kontrast zu Jessie Wares dahingeträllertem Gesang und dem nervösen Drumcomputer, der an „Millionaire“ von Kelis und André 3000 erinnert.

Im Video spaziert sie in einem spektakulären schwarz-weißen Kleid durch eine sommerliche Osterglockenblumenwiese, räkelt sich ein wenig und fährt am Ende mit einem schicken Cabrio davon. Neben ihr sitzt ein junger Mann mit Bart. Er hat nur dekorative Funktion – und er lässt Jessie Ware noch heller strahlen.

Jessie Ware: „Devotion“ ist bei Universal erschienen. Konzert: 19.11, 23 Uhr, Bi Nuu, Berlin (Anmeldung über www.introducing.de)

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