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Kultur: Jetset ohne Jetlag

"Ich zögere nicht zu sagen, dass ich kein Orchester mit einem vergleichbar interessanten Programm kenne. Wenn ich das ganze Jahr in München wäre, würde ich alle Konzerte besuchen.

"Ich zögere nicht zu sagen, dass ich kein Orchester mit einem vergleichbar interessanten Programm kenne. Wenn ich das ganze Jahr in München wäre, würde ich alle Konzerte besuchen." Große Worte, gesprochen von einem gewichtigen Dirigenten. Bei der Vorstellung des Jahresprogramms 2002 / 2003 der Münchner Philharmoniker demonstrierte James Levine, dass er den bayerischen Lokalpatriotismus bereits voll verinnerlicht hat. Ein bisschen hat er mit dem Lob natürlich auch sich selber gemeint - schließlich ist der chronisch bestgelaunte Amerikaner Chefdirigent der Münchner. Dass Levine nicht bei allen Auftritten der Musiker dabei sein kann - so gerne er es auch wäre - liegt daran, dass er auch noch die New Yorker Metropolitan Opera leitet. Da geht viel Zeit im Flugzeug verloren. Vielleicht hat der Dirigent auch deshalb gerne das Angebot angenommen, ab Herbst 2004 nach nur fünf Jahren in München zum Boston Symphony Orchestra zu wechseln.

Auch Christian Thielemann, den sich viele als Nachfolger Levines wünschen, könnte nicht das ganze Jahr in München sein. Schließlich ist er mindestes bis 2006 auch Generalmusikdirektor der Deutschen Oper in seiner Heimatstadt Berlin - und zwar gerne: "Ich verlasse dieses Haus nicht, ich bin hier zu Hause und lege großen Wert darauf, es auch weiterhin zu sein."

Die Nachricht, München interessiere sich für Thielemann, sorgte gestern zunächst für viel Aufregung. Dann aber stellte sich heraus, dass die die Sache noch ganz vage ist: Man könne sich eine künstlerische Perspektive mit Thielemann vorstellen, sagte ein Sprecher. Die beiden Konzertprogramme mit Bruckners siebter Sinfonie, Werken von Mozart und französischen Komponisten, die der Dirigent gerade mit dem Orchester einstudiert hat, hätten bei vielen Instrumentalisten den Wunsch nach einer vertieften Zusammenarbeit geweckt. Allerdings seien noch nicht alle Kollegen befragt worden. Auch der 43-jährige Maestro gibt sich ungewohnt diplomatisch: "Wir haben uns hervorragend verstanden. Das kann ein Grundstock sein, muss aber nicht. Die Philharmoniker haben so etwas von traumhaft gespielt in den drei Wochen. Das ist mehr als nur eine Überlegung wert."

Sollen sich tatsächlich die Mehrheit der Münchner Musiker für den Berliner aussprechen, beginnt ein langwieriges Prozedere: Anders als bei den Berliner Philharmonikern, die ihren Chef basisdemokratisch wählen, müssen die Münchner ihren Wunschkandidaten dem Intendanten vortragen. Mit diesem Namen geht der zur Kulturreferentin Lydia Hartl, die Verhandlungen aufnimmt und das Ergebnis dem Münchner Kulturausschuss vorlegt. Am Ende entscheidet der Stadtrat.

Der Weg zur Berufung ist also in jedem Fall lang. Für Thielemann wäre der Job ein logischer Schritt in seiner rasanten Karriere (und ein lukrativer dazu - Levines Jahresgage liegt bei einer Million Euro). Spätestens seit seinen sensationellen "Meistersingern" in Bayreuth 2000 (wo er für Daniel Barenboim einsprang, der sich mit Wolfgang Wagner verkracht hatte), erreichen ihn immer wieder verlockende Angebote.

Kenner der Münchner Musikszene zweifeln allerdings daran, ob die Wahl des als konservativ geltenden Thielemann in der aktuellen Lage das Richtige ist: Nach den legendären Zeiten Sergiu Celebidaches von 1979 bis 1996 spielt das Orchester nicht mehr in Bestform. Mit den Berliner Philharmonikern oder den großen amerikanischen Orchestern kann man sich kaum messen. Im Gegensatz zu den Staatskapellen aus Dresden und Berlin mit ihrem individuellen, sofort wiedererkennbaren Klang, sind die Münchner verwechselbarer geworden. Als Nachfolger des Atmosphäre-Dirigenten Levine ("in technischen Dingen bin ich kein Perfektionist") würde ein strenger Orchesterzieher wie Thielemann dem Orchester gut tun. Ob dabei ein neues, klares Profil herauskommt, hinge von dem Mut des Berliners ab, mit einem der renommiertesten Orchester der Republik zu experimentieren, sein bislang bewusst schmal gehaltenes Repertoire offensiv zu erweitern.

Dass es Thielemann reizt, neben seinem Opernhaus auch ein Konzertorchester zu leiten, hat er bereits im letzten Tagesspiegel-Interview angedeutet. Zwei Jobs zu haben, ist nichts Ungewöhnliches in der Branche: Daniel Barenboim ist seit langem Chef in Chicago und Berlin, Marek Janowski hat Posten in Nizza, Dresden und beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin inne, Simone Young betreut sogar parallel Orchester im norwegischen Bergen und im australischen Sydney. Mit München und Berlin hätte es Christian Thielemann da viel leichter: Jetset ohne Jetlag.

Während er den Aufbau einer künstlerischen Achse Berlin-München "reizvoll" nennt, reagieren andere bei dem Gedanken eher gereizt: Die beiden schärfsten deutschen Kultur-Konkurrenten gleichzeitig beglücken zu wollen, so etwas könne doch nicht gut gehen! Vielleicht aber ist die Zeit auch dafür reif, passend zur Entflechtungsdebatte, vielleicht könnten dank Thielemanns Doppelengagement endlich Bayern und Berlinern näher zusammenrücken, zumindest was blühende Klanglandschaften betrifft. Die Frage, wo denn nun die Musikhauptstadt liege, würde sich womöglich ganz im Sinn des Förderalismus erübrigen.

Bislang haben die Berliner den Münchnern mehr Kulturleute abgejagt als umgekehrt: Christoph Stölzl zum Beispiel. Peter-Klaus Schuster absolvierte nur ein kurzes Gastspiel an der Isar. Philharmoniker-Intendant Franz Xaver Ohnesorg hatte den gleichen Posten auch schon mal in München inne. Auf dem politischen Parkett bereitet sich dagegen gerade ein Bayer vor, das Berliner Kanzleramt zu erobern. Es ist nicht auszuschließen, dass sich im Zweifelsfall die Mehrheit der Hauptstädter dafür entscheiden würde, Thielemann ganz abzugeben.

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