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Die Autorin im Porträt. Im Fotoatelier von Heike Steinweg werden für Hiba Obaid Erinnerungen wach.

© Heike Steinweg

#jetztschreibenwir: Und es hat Klick gemacht

Ein Passfoto in Aleppo, ein Blitzlicht vor brennenden Häusern, der Traum vom Hochzeitsbild: Die Fotosession einer Syrerin in Berlin wird zur Reise in die eigene Vergangenheit.

Es war ein Tag wie jeder andere. In Berlin regnete es in Strömen, als eine Freundin anrief und fragte, ob sie der Fotografin Heike Steinweg meine Mail-Adresse weitergeben dürfe. Diese sei für ein Ausstellungsprojekt auf der Suche nach Frauen aus anderen Kulturkreisen, starken Frauen, die sich von leidvollen Erfahrungen nicht hatten unterkriegen lassen.

Auf meinem schmalen Bett liegend kommen mir alle möglichen Gedanken. Bin ich stark? Kann ich das, vor einer Kamera stehen und alles, was ich durchgemacht habe, zum Ausdruck bringen?

Am Fenster zieht eine Wolke vorbei, sie scheint zu mir hineinzuspähen. Eines sonnigen Montagmorgens staune ich auf dem Weg von der U-Bahn zu Heikes Wohnung mal wieder über diese Stadt, die mich Tag für Tag neue Straßen entdecken lässt. „Ich bin stark, ich bin stark ...“, murmele ich vor mich hin. In einem Buch hatte ich gelesen, wie man das Denken mittels konstanter Wiederholung bestimmter Phrasen konditionieren kann.

Von Heikes Küchentisch aus hat man einen weiten Blick über die Dächer der Stadt. Wir essen Kirschen, plaudern über dies und jenes: Wetter, Essen, Kaffee ... Dann wechseln wir auf den Balkon, wo Heike einen regelrechten Garten angelegt hatte. Dort erzähle ich ihr meine Geschichte, stets den Ölbaumzweig hinter ihr im Blick. Olivenbäume sind bei uns etwas Besonderes, fast schon Heiliges. Sie stehen für Heimaterde, für Frieden, für ein Rendezvous mit dem Winter.

Ich fühle mich entspannt. Es ist, als würde Heike schon meine Worte mit ihrer Kamera aufnehmen, so konzentriert hört sie zu. Und plötzlich beginnt mein Leben sich wie eine Fotogeschichte vor meinem inneren Auge abzuspulen ...

Kann man der neuen Umwelt begreiflich machen, dass da ein Mensch ist, der die gleichen Träume und Albträume hat?

Erste Szene: Die Polizeistation in Aleppo, auf der ich den Verlust meines Personalausweises melde. Der Polizeifotograf schnauzt mich an, ich solle gefälligst strammstehen. Ich spüre nackte Angst in dem von Stacheldraht und unzähligen Soldaten abgeriegelten Gebäude. Von Weitem fange ich den Blick meines Vaters auf, der auf mich wartet. Er gibt mir zu verstehen, ich solle den oberen Knopf meiner Bluse zumachen. Alle scheinen meinen Körper mit ihren Blicken verschlingen zu wollen. Völlig verunsichert stehe ich da.

Zweite Szene: Aleppo, meine Stadt, ist in Dunkelheit versunken. Nur die brennenden Häuser erleuchten die Straßen, es gibt keinen Strom mehr. Im Fotoladen nur das Blitzlicht einer Kamera. Der Mann sagt, er sei Profifotograf. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Ich brauche das Foto, denn ich will am nächsten Tag das Land verlassen.

Dritte Szene: Diesmal bin ich es, die den Schnappschuss auslöst, den Blick in den Spiegel gerichtet. Die Kamera habe ich an der Wand meines Zimmers befestigt. Jenes Zimmer, das zusammen mit dem Haus in Aleppo und mit meinen Erinnerungen in Flammen aufgehen wird.

Die letzte Szene verfolgt mich bis heute im Traum. Ich trage ein langes weißes Kleid, umringt von meinen Freunden und meiner Familie: Mutter, Vater, die Geschwister. Ich lache wie ein Kind, das seine ersten eigenen Schritte macht, und umarme den, der mein Ehemann werden soll. Ein trauriger Traum: Mein Mann ist Kurde, wir durften kein großes Hochzeitsfest feiern. Es ist der Riss zwischen den Religionen und Volksgruppen, wäre es doch nur ein altes, verblichenes Bild.

Heike sagt: „Vor der Kamera zu stehen, ist für dich offenbar immer mit Leid verbunden. Mir geht es beim Fotografieren darum, dass sich die Porträtierten ihrer Stärke bewusst werden. Hinter dem Schmerz kommt vieles zum Vorschein, über das es mehr zu erfahren gilt. Jedes Foto hat seine Geschichte. Ein Blick in deine Augen verrät mir, dass du mit all deinen Träumen im Gepäck hier angekommen bist und eines Tages so leben wirst, wie du es dir gewünscht hast.“

Kann man der Welt mit einem bestimmten Blick signalisieren: Halt, bleib einen Moment stehen und schau ohne herablassendes Bedauern auf mich? Ohne Angst, ohne Vorurteile? Kann man der neuen Umwelt begreiflich machen, dass da ein Mensch ist, der die gleichen Träume und Albträume hat? Hey, Welt, hast du schon mal darüber nachgedacht, wie es ist für jemanden, der einem Blutbad entronnen ist? Morgens aufzustehen, Kaffee zu trinken, Zeitung zu lesen, wenn du deine Familie im Krieg verloren hat? In einem Land anzukommen, wo du ein neues Leben lernen musst, von dem du bis vor Kurzem keinerlei Vorstellung hattest?

Heike und ich vereinbaren noch ein Treffen für das Fotoshooting. Sie ist mit meinem Wunsch einverstanden, dass ich mein palästinensisches Gewand trage.

Ich mache mir die Haare zurecht und übe vor dem Spiegel, meine Lippen zu einem Lächeln zu formen. Es ist ein trüber Tag, aber meine Laune hellt sich gleich auf: Heike hatte den Kaffee extra auf palästinensische Art zubereitet. Den Geschmack noch im Mund folge ich ihr ins Fotostudio mit der schwarzen Hintergrundwand. Zum ersten Mal betrete ich so einen Raum ohne Angst oder Lampenfieber, ohne die Befürchtung, das Foto würde schrecklich werden.

Heikes Lachen und ihre Bewunderung für mein bunt besticktes Kleid lösen meine Verkrampftheit. Sie fordert mich auf, mit so viel Kraft wie möglich in die Kamera zu schauen. Bei jedem Blitz und jedem Klick schleudere ich der kleinen Linse stumm entgegen: „Zum Teufel mit dem Tod! Ich werde meine Träume verwirklichen, die ganzen Zuschreibungen hier ins Wanken bringen und der Welt beweisen, dass ich stärker bin, als sie denkt.“ Heike mag meinen zornigen Blick nicht. „Woran denkst du gerade? Sei einfach so, wie du bist.“

Nächster Versuch. „Hey, Welt, hier bin ich ... Und eines Tages werde ich das sein, was ich mir gewünscht habe.“

Der Wind rüttelt am halb geschlossenen Fenster, bis Heike es schließlich öffnete. Ich wünschte, sie würde mir übers Haar streichen. Der Geruch nach Regen blockiert meine Gedanken. Gegen den Regen bin ich machtlos. Da, wo ich herkomme, löst er besondere Assoziationen aus, Liebe, Wärme, Sehnsucht nach einer fernen Vergangenheit.

„Sich selber ins Auge sehen können, das ist alles.“

Ich stehe auf einer Wolke, schlafe auf einem weiten Feld, kämpfe gegen eine Flut von Erinnerungen an. Die Kamera klickt, sie scheint etwas in mir zu suchen.

Ich bin auf der Entbindungsstation, bei meiner Mutter. Ich sehe sie weinen und schreien: „Holt mir dieses Kind aus dem Leib!“ Und ich bin das Baby, das darauf wartet, auf die Welt zu kommen. Was wäre gewesen, wenn die Krankenschwester mein Namensbändchen vertauscht hätte und ich in Syrien nicht mit dem Status eines palästinensischen Flüchtlings aufgewachsen wäre. Wenn ich nicht eines Tages an der libanesisch-syrischen Grenze gestanden hätte, den Koffer voller Enttäuschungen und mit dem Satz im Ohr: „Palästinenser hinten anstellen!“?

Dann hätte mein Großvater mir weder von der Nakba, der Vertreibung hunderttausender Palästinenser im Zuge der Gründung Israels, noch von seiner Kindheit im Flüchtlingslager erzählt. Dann hätte ich nicht geweint, als mich der türkische Grenzbeamte, der meinen gefälschten Reisepass sah, zum Teufel jagte.

Dann wäre ich nicht ich.

Heike springt plötzlich auf. „Sich selber ins Auge sehen können, das ist alles.“

Wer im November die Ausstellung mit ihren Porträts sieht, wird sich fragen, wer diese Frauen sind auf den Fotos. Wo sie herkommen, was sie heute machen. Sucht nicht nach ihnen, sie sind überall. Auch in eurer Erinnerung.

HIBA OBAID, 1990 in Aleppo geboren, kam im November 2015 über die Türkei nach Berlin. In Syrien studierte sie arabische Literatur und arbeitete

als Journalistin für Zeitungen und Magazine. In Berlin beteiligt sie sich unter anderem an dem Aktionsbündnis „Wir machen das“.. Ihr Text erscheint im Rahmen der Tagesspiegel-Ausgabe vom 15. Oktober 2016, die von geflüchteten Journalisten gestaltet worden ist.  

Aus dem Arabischen von Rafael Sanchez. Heike Steinwegs Ausstellung „Ich habe mich nicht verabschiedet. Frauen im Exil“ ist vom 17.11. bis 8.1. im Tempelhof Museum zu sehen. Mo bis Do 10–18 Uhr, Fr 10–14 Uhr, So 11–15 Uhr, Eintritt frei.

Hiba Obaid

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