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Kultur: Jim Knipfels "Blindfisch" spielt mit Mitleid und Entsetzen

Kennen Sie den? Ein Blinder tapert mit seinem Hund in ein Kaufhaus.

Kennen Sie den? Ein Blinder tapert mit seinem Hund in ein Kaufhaus. Dort packt er das Tier am Schwanz, wirbelt es um seinen Kopf. Die verdattert protestierenden Zuschauern raunzt er an: "Man wird sich ja wohl mal umschauen dürfen." Dieser Witz hat Sonderklasse, weil er nicht nur unsere political correctness im Umgang mit Behinderten karikiert, sondern zugleich die unerlaubte Erkenntnis benennt, die Funny van Dannen einmal so formulierte: "Auch lesbische, schwarze Rollstuhlfahrer können ätzend sein!"

Der Amerikaner John Knipfel hat keinen Blindenhund. Als die seltene Augenkrankheit "retinitis pigmentosa" bei ihm ins finale Stadium eintrat, entschied er sich für einen Stock, allerdings in der fälschlichen Annahme, dass man damit blöden Passanten eins überbraten kann, wenn man in sie reinrennt. Dass der Stock aus schlappem Gummi bestand, war eine herbe Enttäuschung: So ätzend ist die Hauptperson. Oder will sie zumindest sein gegenüber einer Welt, die ihr immer die kalte Schulter gezeigt hat, aber nun ständig mit dieser mitleidigen "Ach, Sie bedauernswerter Mensch"-Tour ankommt.

Knipfel, Jahrgang 1965, ist ein amerikanischer Verlierer, wie er schon in vielen Büchern steht. Auf der Uni durch zuviel Nietzsche und Dostojewski unbrauchbar gemacht für den American Dream, zu wild und faul für eine akademische Karriere, schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben. Er lärmt in einer Punk-Band, Liebesbeziehungen scheitern, das Geld ist knapp, aber für eine gute Pulle reicht es immer. Mit rotzigen Artikeln in einem Underground-Blatt macht er auf sich aufmerksam, der bescheidene Ruhm entführt ihn aus dem provinziellen Wisconsin nach Chicago und New York, wo er durch seine alles und jeden attackierende Kolumne "Blindfisch" in der alternativen New York Press zur lokalen Kult-Größe aufsteigt. Da ist er schon fast blind, die Morddrohungen, die er regelmäßig bekommt, kann er kaum mehr lesen. Aber darüber schreiben: in knappen Sätzen, die sich zu Episoden, zu lakonischen Stories aus Biographie und Alltag verdichten, in denen die schleichende Erblindung immer mehr die Regie übernimmt und schließlich das ganze Leben dominiert.

Dass Knipfels Verlag nun das verkaufsfördernde Etikett "Roman" an sein Buch klebt und dazu eine reichlich plattitüdenhafte Eloge Thomas Pynchons ("geborener Geschichtenerzähler etc.") auf den Umschlag wuchtet - dafür kann der Autor nichts. Literarische Kategorien interessieren ihn so wenig wie ausgefeilter Stil. Aus Bukowski, Burroughs und flotter Zeitungsschreibe mixt er seinen Cocktail, den man ohne jene scharfe Substanz des going blind ziemlich fade fände. Sie macht aus der Autobiographie zwar noch keine Literatur, aber sorgt für eine irritierend witzige Lektüre. . "Sie müssen sich auf schreckliche Depressionen einstellen", sagt eine mitfühlende Sozialarbeiterin. "Macht nichts", lautet die Antwort des Patienten. Er ist lediglich bekümmert, dass er der Welt jetzt nicht länger ständig in den Arsch treten kann, weil er sie dummerweise nicht mehr richtig sieht.

Dafür bieten die staatlichen Hilfsangebote für seinen stilisiert bösen Blick reichlich Stoff für die Satire. Braille lernen? "Damit ich die gesammelten Werke von Tom Clancy, Sidney Sheldon und Ken Follett lesen kann?" Drauf gepfiffen! Ebenso wie auf die Führung im Verkehrsmuseum, die Blinde vor dem U-Bahn-Tod bewahren soll. Aber wenigstens schaut er mal vorbei, um hinterher einen schreiend komischen Text über dieses im Grunde tieftraurige Erlebnis zu schreiben. Sein sardonischer Humor spielt dabei virtuos mit des Lesers Mitleid und Entsetzen. Gibt es überhaupt die "korrekte" Lektüre für solch ein Buch? Man gönnt dem Autor seine neue Popularität, die ohne sein reales Schicksal wohl kaum zustande gekommen wäre. Junge loser, die ordentlich bechern und der Welt ihre Verachtung entgegenschreiben, sind aus der Mode. Aber so ein echter Blinder kommt irgendwie gut. Da passt auch die Sauferei prima ins gesellschaftskritische Bild. Wie singen die "Toten Hosen" derzeit so treffend: Kein Alkohol ist auch keine Lösung! Dieser geniale Spruch hätte von Jim Knipfel stammen können. Der mit schwarzem Hut und langem Haar übrigens recht finster aus dem Klappentext guckt - und sich in einer Widmung ganz rührend bei seinen Eltern für Liebe und Zuspruch bedankt. Sollte er doch gar kein so schlimmer Finger sein?

Joachim Scholl

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