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Joachim Kaiser

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Joachim Kaiser zum 80.: Der Mitreißer

Er ist kein Verreißer, lieber ein Bewunderer. Weder von teutonischem Scharf- und Tiefsinn beseelt noch von französischer Theorieliebe kalt erhitzt urteilt er pragmatisch und immer für das Publikum. Dem Großkritiker Joachim Kaiser zum 80.

Neben Marcel Reich-Ranicki ist er der bekannteste und meistbewunderte Kritiker Deutschlands. Nicht der gefürchtetste, weil kein Mann von Stift und Galle. Lieber ein Bewunderer als ein Verreißer, ein hinreißend Mitreißender. Hin zur Literatur, mit ins Theater, doch am liebsten ist Joachim Kaiser in der Musik zu Haus. Wobei das Haus eher kaisergemäß ein Schloss ist – ein Palast der Bildung. Mit Prunksälen, Quergängen, verborgenen Salons, Kitschecken und Studierstuben voll ungeahnter Bücher und wundersamer Klänge.

Nur verwinkelt wirkt das nicht. Und nie verschroben. Denn Joachim Kaiser schreibt, weil durchaus gefall- und wirkungssüchtig, als Kritiker fürs Publikum. Für Leser und Hörer, die Gefallen haben sollen an der geistvollen Belehrung. Ja, Kaiser ist in seinem hochmusikalischen Denken, Sprechen, Schreiben ein kulinarischer Kritiker. Obwohl geborener Ostpreuße und Adorno-Schüler, spielt er keine Rolle als philosophischer oder politischer Denker. Er ist nicht von teutonischem Scharf- und Tiefsinn beseelt, auch nicht von französischer Theorieliebe kalt erhitzt. Kaiser urteilt mit eher angelsächsisch pragmatischer Vernunft. Doch das Bestimmte in seinen Kritiken und Essays wird zugleich beflügelt durch die musische Gemütsleidenschaft und das intellektuelle Vergnügen am Formschönen; noch im tragisch Verzweifelten sucht er die ästhetische Versöhnung. Kaiser kann über Beckett und Mozart, Wagner und Walser genauso brillierend schreiben wie über eine saukomische Boulevardkomödie von Feydeau oder die „Fledermaus“. Deswegen lebt er in München – und liebt Wien.

Das Schwere leicht zu machen, nannte Brecht das Schwerste. Kaiser beherrscht diese Kunst als Kritiker, im persönlichen Gespräch oder als vor Bildungspointen sprühender Stegreifredner. Dabei trägt ihn sein Witz, der (wie im englischen Begriff des „whit“) Esprit und Humor vereint. Zum jüngsten Beweis nehme man nur Kaisers Lust am Loriot’schen Hintersinn und lese das Vorwort zur soeben bei Diogenes erschienenen Gesamtausgabe seines Freundes Vicco von Bülow. Wie er darin 25 Zeilen Loriot (übers Fernsehen) auf acht geistvollen Seiten deutet, darf ab sofort als Pflichtlektüre der Interpretationskunst gelten. Und als Exempel dafür, dass sich Exegese und Entertainment nicht widersprechen müssen.

Beim Theater versteht Kaiser das Schauspiel manchmal nur als Hörspiel, die Beschreibung des szenisch Verkörperten ist nicht unbedingt seine Stärke. Aber wie er Musik in Sprache verwandelt und Höreindrücke analytisch-sinnlich miterlebbar macht, das kann so kein anderer. Auch jetzt noch, im von ihm souverän beklagten Alter, verfasst er Bücher, Essays und seine Kritiken für die „Süddeutsche Zeitung“, deren Star er seit einem halben Jahrhundert ist. „Ich bin der letzte Mohikaner“ heißt nun die Halbautobiografie, die er in Wechselrede mit seiner Tochter Henriette geschrieben und gesprochen hat (Ullstein, 24,90 €). Diese jüngste, alterfahrene Konfession ist auch ein Stück Kulturgeschichte. Das Zeitbild eines unerschöpflichen, kunstpassionierten Anregers. Heute feiert er, nach dem Tod seiner Frau gewiss nicht ungetrübt und gleichwohl festlich, in München seinen 80. Geburtstag. Champagner!

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