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Kultur: John Gray wettert gegen Laissez-faire und freie Märkte

Menschen, die sich mit dem Wirtschaftsleben beschäftigen, teilen sich in zwei Typen: Marktoptimisten und Marktpessimisten. Gute Ökonomen sind Marktoptimisten.

Menschen, die sich mit dem Wirtschaftsleben beschäftigen, teilen sich in zwei Typen: Marktoptimisten und Marktpessimisten. Gute Ökonomen sind Marktoptimisten. Sie wissen, dass dynamische Wettbewerbsgesellschaften allen gegenteiligen Prophezeiungen und allen Krisen zum Trotz prosperieren. Politologen sind häufig Marktpessimisten. Denn ein funktionierender Markt lässt der Politik wenig Handlungsbedarf - und er gibt den Politologen wenig Gelegenheit, ihre Theorien zu verbreiten und zu verkaufen. Der Politologe John Gray, Professor an der London School of Economics, gehört zu den Marktpessimisten.

Das war nicht immer so. In den 80er Jahren zählte Gray zu den Beratern hinter Lady Margaret Thatcher, die den maroden britischen Wohlfahrtsstaat auf Vordermann brachte. Eingebunden in die internationale liberale Szene, schrieb er vielbeachtete Bücher, etwa über den Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich A. von Hayek. Was genau Grays Wandel zum Marktpessimisten auslöste, der Leser erfährt es nicht. Sicher aber ist, dass Gray mit seiner Schrift "Die falsche Verheißung" die Weisheit bestätigt, nach der niemand unversöhnlicher auftritt, als ein Konvertit.

Die Kernbotschaft ist da schnell zusammengefasst: Der freie Markt ist schlecht, der Weltmarkt anarchisch und unberechenbar, der Kasinokapitalismus regiert. Kapitalanleger und -geber übernehmen das Ruder, Länder werden von ausländischem Kapital abhängig, Gesellschaften zerfallen. Dem freien Markt gelinge, meint Gray, was der Sozialismus nie geschafft habe: Er lasse das bürgerliche Leben absterben. Doch fordere die Demokratie ihren Tribut, sie wünsche mehr gesellschaftlichen Zusammenhang durch Marktregulierung. Internationaler Währungsfonds, Weltbank und US-Regierung müssten sich darauf einstellen, dass die Zeit der freien Weltwirtschaft sich dem Ende zuneige. Soziale Balance und Laissez-faire gingen nicht zusammen.

Gray singt das Hohe Lied der kulturellen Eigenheiten, die dem weltweiten Siegeszug des freien Markts à la americaine entgegenstünden, er verteufelt den "Washington Consensus" als Relikt eines überzogenen Glaubens an die Aufklärung, als ahistorische Ideologie, dem Marximus gleich. Damit macht er es sich zu einfach.

Denn welcher vernünftige Mensch hätte je behauptet, dass Japan das US-amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell en detail kopieren solle? Dass ein reformierter rheinischer Kapitalismus dem britischen Modell gleichen solle wie ein Ei dem anderen? Dass nach dem Zusammenbruch des Kommunismus der Welt eine eintönige Einheitssoße marktwirtschaftlicher Gesellschaftsordnungen drohe oder drohen solle? Wenn Gray den Verfechtern der Marktwirtschaft ein "Freier Markt über alles" vorwirft, dann baut er sich einen Pappkameraden auf. Der lässt sich leicht umstoßen.

Zu simpel und falsch ist es auch, ein Greshamsches Gesetz der Globalisierung auszurufen, nach dem der freie Weltmarkt die "schlimmsten Formen des Kapitalismus" begünstige. Profitieren Investoren vom vergleichsweise ruhigen sozialen Klima etwa im kontinentaleuropäischen Konsenskapitalismus, dann sind sie auch bereit, Abschläge bei der Verzinsung hinzunehmen. Ein Ende ausufernder Wohlfahrtsstaaten mögen globale Kapitalmärkte so zwar erzwingen, ein Ende marktwirtschaftlich liberaler Sozialstaaten aber nicht.

Doch weiß ohnehin nur der selbstsichere John Gray, was denn ein guter und was ein schlechter Kapitalismus sei. Auf den gut 330 Seiten des Buches ist viel von gesellschaftlichen Bedürfnissen die Rede, von den Bedürfnissen einzelner Menschen hingegen niemals. Wer aber den individualistischen Freiheitsdrang der US-Amerikaner als Ideologie abtut, der beweist allein die paternalistische Selbstgefälligkeit des Sozialreformers im universitären Kämmerlein. Den muss nicht ernsthaft interessieren, dass deutsche Arbeitslose in den Arbeitsmarkt nicht hineinfinden, weil das Tarifkartell es ihnen verwehrt.

Nicht alles, was sich der Brite so ausdenkt, ist deshalb falsch und schlecht. Die Erkenntnis, dass sich alle Gesellschaftsordnungen - auch die amerikanische Variante - unter globalen Zwängen wandeln werden, ist ebenso richtig wie nichtssagend. Stimmig auch, dass der freie Weltmarkt nicht von allein entstanden ist, der Abbau von Zollschranken und die Befreiung der Kapitalmärkte politisch gewollt waren. Zutreffend die Charakterisierung der US-Politik, sie sei nicht willens und auch nicht fähig, eine Pax Americana weltweit freier Märkte durchzusetzen und zu sichern.

Fast schon zu bewundern ist Grays unerschöpfliche Fähigkeit, in allen heutigen Gesellschaften, aber auch wirklich in allen, soziale Missstände aufzuspüren. Da jammert er darüber, dass der weltweite Markt die Arbeitslosigkeit in Europa verfestigt habe - was zu widerlegen wäre. Zugleich schilt er die USA, sie hätten ihre niedrige Arbeitslosigkeit mit freien Märkten erkauft, welche die Familien zersetzten. Weil in der chinesischen Marktwirtschaft aber die Familien intakt bleiben, muss Gray dort eine "mangelnde Übereinstimmung zwischen verschiedenen Gesellschaftsbereichen" ausmachen, die als Folge freier Weltmärkte abzulehnen sei.

So einfallsreich Gray bei der Aufdeckung scheinbarer Missstände ist, so belanglos sind seine Ratschläge: Eine Regulierung der Weltwirtschaft müsse her, eine Begrenzung vor allem der scheinbar schädlichen Kapitalströme - und das war es auch schon. Oskar Lafontaine, Viviane Forrester, George Soros und andere bieten da mehr, mal abgesehen davon, dass ihre Vorschläge zum Wohle aller besser nicht umgesetzt würden.

Trotz dieses offensichtlichen Mangels hat Grays Schrift alles, um in Deutschland zum Erfolg zu werden: ein Misstrauen gegen die scheinbar anarchischen Kräfte des Marktes, einen wehleidigen Unterton und den gewissen Hauch von Weltschmerz, kurz, das Buch ist voller Verzweiflung. Der Leser hingegen, der sich daran erfreut, Software aus Indien, Kiwis aus Neuseeland und Kaffee aus den Anden einzukaufen, der Indern, Neuseeländern und Kolumbianern die Möglichkeiten gönnt, sich auf weltweiten Märkten aus ihrer Armut zu befreien und in mit ausländischem Kapital finanzierten Fabriken Arbeit zu finden, dieser Leser wird das Buch als intelligente Qual empfinden und tief deprimiert beiseite legen.John Gray: Die falsche Verheißung - Der globale Kapitalismus und seine Folgen. Aus dem Englischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber. Verlag Alexander Fest, Berlin 1999. 334 Seiten, 39,80 DM.

Patrick Welter

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