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John Updike: Das Glas war immer voll

Kindheitserinnerungen und Ehegeschichten: John Updikes nachgelassene Erzählungen „Die Tränen meines Vaters“

Am Ende seines Lebens muss John Updike sich selbst einigermaßen fremd geworden sein. Das zumindest legt die allerletzte Geschichte seines nachgelassenen, von ihm selbst noch zusammengestellten Erzählbandes „Die Tränen meines Vaters“ nah. Darin spürt der Erzähler den Augenblicken in seinem Leben nach, „in denen ich dieses Gefühl von vollem Glas hatte“, und staunt dabei immer wieder über den alten Mann, der er jetzt ist: „Auf die achtzig zugehend, sehe ich mich manchmal aus einigem Abstand als einen Mann, den ich kenne, aber nicht näher.“ Oder er konstatiert: „Aber nun, da ich im Ruhestand bin (...), beobachte ich mich mit schärferer Aufmerksamkeit, so wie man ein Auge auf einen Fremden hat, der jeden Augenblick umkippen könnte.“

John Updike hat für diese Geschichte mit dem Titel „Das volle Glas“ einen abgeklärt heiteren, zuweilen melancholischen Ton gewählt. Er erzählt gelassen, ausgeruht, manchmal eine Idee zu gelassen und ausgeruht – aber was soll ihn auch noch zur Raserei treiben? Und dabei changiert er immer sehr schön zwischen den „Volles–Glas-Gefühlen“, eben den Erinnerungen seines Ich-Erzählers an früher (Kindheit, Ehe, Beruf, Seitensprünge) sowie dem Bericht über tägliche Routinen wie Rasieren, Zähneputzen oder allabendliche Streckübungen im Bett, um den Krämpfen in Zehen und Unterschenkeln zuvorzukommen. Doch selbst wenn gerade der alltägliche Trott etwas Zermürbendes hat, von einer Sehnsucht nach dem Tod kann keine Rede sein: „Wenn ich die Gedanken dieses sonderbaren alten Kerls richtig lese, bringt er gerade einen Toast auf die sichtbare Welt aus, sein bevorstehendes Verschwinden aus ihr sei verdammt.“ In diesem Satz schwingt eine gehörige Portion Wut mit darüber, nicht mehr viel Zeit zu haben, nicht zuletzt bei Updike selbst. Seine Produktivität bis ins hohe Alter spricht Bände, erschienen doch nach seinem Tod in steter Folge noch der Roman „Die Witwen von Eastwick“, der Gedichtband „Endpunkt“ und nun „Die Tränen meines Vaters“.

„Endpunkt“, gewidmet seiner Frau Martha, „die sich noch ein Buch gewünscht hat“, war dabei tatsächlich der Abschied Updikes von seinen Lesern und seinem Leben: „Anscheinend hat der Tod das Tor gefunden, durch das er eintreten wird: meine Lungen“ heißt es dort in einem der letzten Gedichte, das auf den 6. November 2008 datiert ist. „Die Tränen meines Vaters“ wiederum versammelt Erzählungen, die bis auf eine, „Marokko“, allesamt in den nuller Jahren entstanden sind. John Updike hat sie, so wie er es stets mit seinen Erzählbänden hielt, schön der Reihe nach dem Zeitpunkt ihrer Niederschrift angeordnet. In all diesen Geschichten beschäftigt er sich mit seinen liebsten Themen: mit der Ehe und mit Ehebrüchen, die auch die Gegenwart der Erzähler bestimmen, mit der Beziehung zu Kindern und Enkelkindern, die das Vergehen der Zeit illustriert, dazu kommen Kindheitserinnerungen, Reflexionen über das Alter. In „Die Tränen meines Vaters“ erkennt man noch einmal sehr gut den Schriftsteller, der zwar mit Romanen berühmt wurde, mit „Ehepaare“ oder der „Rabbit“-Tetralogie, der mit Essays für Aufsehen sorgte, der ein passabler Lyriker war – der das Kurzgeschichtenschreiben aber mit der allergrößten Meisterschaft beherrschte.

So reichen Updike, wie in „Marokko“, zwei an die Kinder des Erzählers gerichtete Schlusssätze, um aus einer dahinplätschernden Erinnerung an die Reise einer amerikanischen Durchschnittsfamilie durch Marokko eine tolle Geschichte über die Essenz des Lebens zu machen: „Erwachsen werden, aus dem Haus gehen, mit ansehen, wie eure Eltern sich scheiden ließen – alles hat sich in dem Jahrzehnt seither zugetragen. Aber auf einer hellen hohen Plattform des Eiffelturms hatte ich noch das Gefühl, wir seien für alle Zeit untrennbar miteinander verbunden.“ Da reicht ihm ein Stromausfall, um die Geschichte eines sehr kurzen Seitensprungs zu erzählen (da dieser sich sofort erledigt, als der Strom wieder da ist); und John Updike verknüpft immer wieder geschickt die Gegenwart seiner alternden Helden mit ihren Erinnerungen, die sie mal mehr, oft aber auch weniger in ein mildes Licht tauchen. Die titelgebenden, eigentlich seltenen Vatertränen waren zum Beispiel dann doch so viele, dass für den Sohn keine mehr übrig bleiben konnten: „Die Tränen meines Vaters hatten meine aufgebraucht.“

„In all diesen Arbeiten von jeweils ein paar tausend Wörtern stecken“, hat Updike einmal über seine Erzählungen bekannt, „unmittelbarer als in meinen Romanen und ausführlicher als in meinen Gedichten, die Ereignisse und Bedrängnisse, die Krisen und Höhepunkte meines Lebens." Gerade in den „Kindheitsszenen“ bevorzugt er stets die Familienkonstellation, die seit seiner Geburt 1932 die seine in Shillington, Pennsylvania war: ein Kind, seine Eltern, ein Großelternpaar, alle in einem Haus. „Die Hüter“ heißen die Altvorderen in einer Geschichte, „sie gewährten ihm immer noch ihren Schutz und ihre Fürsorge".

„Die Hüter“ sind die Menschen, die einen lebenslang begleiten, bis auf das Totenbett, und sie sind Updikes unerschöpflicher Quell. Gedanken darüber, ob sein Glas jemals leer, halb leer oder halb voll war, brauchte sich der Schriftsteller John Updike nie zu machen. Sein Glas war bis zu seinem dann sehr schnell eintretenden Tod immer bis obenhin voll.

John Updike: Die Tränen meines Vaters. Erzählungen. Aus dem Englischen von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 367 Seiten, 19, 90 €.

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