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Abwesend anwesend. Jonas Mekas mit Skype-Botschaft im Weddinger Silent Green.

© Ray Peter Maletzki

Jonas Mekas in Berlin: Ein Tropfen Heiliger Geist

Aus dem Tagebuch eines Avantgardisten: Eine Performance im Berliner Silent Green mit Jonas Mekas and Friends.

Von Gregor Dotzauer

Ein halbes Jahrhundert musste vergehen, ehe seine „Defense of Perversity“ aus dem Tagebuch des Jahres 1959 erstmals zwischen zwei reguläre Buchdeckel fand. In der ersten Nummer der Zeitschrift „Big Table“ war Jonas Mekas auf Auszüge aus William S. Burroughs’ Roman „Naked Lunch“ gestoßen, fühlte sich von diesem Ausbund an Obszönität und dunklem Wahn elektrisiert und verbrachte anschließend eine schlaflose Nacht. „In einer zum Unechten standardisierten, konformistischen, kranken Gesellschaft, wird Perversität zu einer befreienden Kraft“, notierte er damals. Sie ist „ein Tropfen Heiliger Geist, ein erlösender Strahl“, ein unbewusstes Aufbegehren „gegen entmenschlichende Tendenzen“.

Thurston Moore, der legendäre Gitarrist von Sonic Youth, liest die hymnische Verteidigung zum Abschluss eines charismatischen Solosets, als wäre sie nicht auf die Welt der Beat Generation, sondern auf die unmittelbare Gegenwart gemünzt. Tatsächlich ist sie erst vor zwei Jahren in den „Scrapbooks of the Sixties“ bei Spector Books in Leipzig neu erschienen. Aber zum Finale von „Edit Film Culture!“, einem Festival zu Ehren von Mekas im Berliner Silent Green, geraten die Zeitschichten so stark ins Taumeln wie die Musik, die sie begleitet. Moore lässt die Verstärker in beschwörerisch langsamen Feedbackschleifen und Monsterdelays erzittern. Unter weitgehendem Verzicht auf das Griffbrett rupft und zerrt er Geräuschpartikel aus ihm heraus, die sich nur selten zu einem richtigen Song wie „Speak to the Wild“ verdichten.

Jonas Mekas, 1922 im Norden Litauens geboren, war noch jung, als er 1949 mit seinem Bruder Adolfas in die USA emigrierte. Doch er war nicht mehr naiv. Ein Autor und Dichter, der in seiner Heimat Zeuge der Judenvernichtung geworden war und von den Nazis in ein Arbeitslager im schleswig-holsteinischen Elmshorn deportiert wurde, bevor er als displaced person im Hessischen Zuflucht fand. Zugleich wollte er stets vom Glück und von der Schönheit erzählen.

Anfangs kaum des Englischen mächtig, stürzte er sich mit einer 16-Millimeter- Bolex in die Straßenschluchten von New York, um seine Schüchternheit zu überwinden. Er wurde zu einem besessenen Chronisten des eigenen Lebens, der aus wackligen, oft überbelichteten Bildern mit poetischen Inserts eine filmische Autobiografie montierte. Als Underground- Pionier, Archivar avantgardistischer Filmschätze in den Manhattener Anthology Film Archives und Mitbegründer der Zeitschrift „Film Culture“ wird er inzwischen fast wie ein Heiliger verehrt.

Drei Tauben, elf Musiker

Und er ist mit seinen 95 Jahren ziemlich lebendig. Bis vor wenigen Monaten reiste er noch durch die Welt. Doch auch per Videobotschaft aus Brooklyn hat er eine Ehrfurcht gebietende Präsenz. Und dass er dann auch noch sein Lieblingslied singt, das Lied von den drei Tauben, die sich nicht einigen können, ob sie weiterfliegen oder sich ausruhen sollen oder noch ein Gläschen trinken, macht ihn vollends unwiderstehlich. Und während die elfköpfige Band unter Dalius Naujo, dem eruptiven Mastermind am Schlagzeug, in dieses Lied einfällt, das er einst schon auf litauischen Äckern anstimmte, flackern schon die „Out-Takes from The Life of a Happy Man“ auf. Es ist sein neuestes, auf Material der Jahre 1960 bis 2000 zurückgreifenden Konvolut, in dem statt des Mannes mit den Altersflecken ein sehr viel jüngerer Mekas zwischen Kindern, Katzen und Krempel umhergeistert.

William Shore und Kenny Wollesen legen an zwei Vibraphonen Tontraubenteppiche aus, der neapolitanische Dichter Giuseppe Zevola schreit seinen Enthusiasmus heraus, und Gitarrist Juozas Milašius funkt Störgeräusche durch dieses freejazzerfüllte Gesamtkunstwerk für Augen und Ohren. Gregor Dotzauer

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