zum Hauptinhalt
Jonathan Meese

© ddp

Jonathan Meese: Komm, süße Revolution!

Er schimpft wieder: Jonathan Meese, Kunstanarchist und Teufelsaustreiber, fordert bei den "Berliner Lektionen" die totale Herrschaft der Kunst und das Ende des Selbstverwirklichungsfanatismus.

Zum Ausklang wird Revolution gespielt. Mode-Designerin Vivienne Westwood hatte die diesjährigen Berliner Lektionen mit einer Anklage gegen die rastlos beschleunigte Konsumgesellschaft eröffnet. Zum Abschluss der Reihe stürmte gestern ein Künstler das Renaissance-Theater, der jedem Reiz- und Bilderterror mit Überbietung begegnet: Jonathan Meese, Kunstanarchist, Teufelsaustreiber, internationaler Marktliebling. In seiner Lecture-Performance ging es um nicht weniger als die totale Herrschaft der Kunst.

Der rote Samtvorhang und ein kleines Rokoko-Tischchen bilden einen koketten Rahmen für den Angriff auf alles Nostalgische. Die Bühne scheint zu klein für diesen Verkünder, der zunächst mit dem Rücken zum Publikum stramm stehend den Hitlergruß macht, um dann auf Knien über die Bretter zu robben und logorrhoisch zu wiederholen: „Ich bin auf jeden Fall die Ameise der Kunst!“ Kein Prophet sei er und kein Guru, in solchen Zuschreibungen sieht Meese seinen größten Feind, den „totalen Selbstverwirklichungsfanatismus,“ der dieses Land beherrsche, seit vor 60 Jahren die Macht von einem Groß- auf 60 Millionen Kleindiktatoren übertragen worden sei. „Geht doch nach Tibet!“ ruft er allen Sinnsuchern entgegen, „dann seid ihr wenigstens verschwunden!“ Alle anderen bittet er, der Kunst die Macht zu übertragen und „die totale Neutralität zuzulassen“. Alles solle Spiel werden, denn „Realität endet immer im Kolosseum!“ An die Stelle des schöpfenden Künstlers setzt er das ritualfreie Spielen.

Dass Meese selbst ständig das Ich-Wort gebraucht, als Festung, aus der er gegen den Individualismus feuern kann, entgeht ihm nicht, und er entschuldigt sich dafür. Es gehe aber nicht um ihn, und die Preise, die ihm reihenweise aufgedrängt werden, sollten „bitte an die Kunst weitergereicht werden“ – was immer das heißt.

Der Vortrag kippt zwischen aufdringlichem Ernst und erfrischender Selbstparodie. Nach einer Stunde blickt Meese in seine Aufzeichnungen und bemerkt: „Ah. Ich wollte ja ganz anders anfangen.“ Ein großer Entertainer. Während einem der vielen Ausbrüche über die kommende „neue Nullzeit“ – „Es wird so geil sein, wir werden nur den ganzen Tag lächeln!“ – schreit ein Baby, und der Saal bricht in Lachen aus. Meese lächelt verschmitzt. „Sehr gut! Das Revolutionsbaby schreit!“

Natürlich sind Meeses Forderungen selbst in Totalitarismusnostalgie verhaftet, ja, sie schöpfen daraus ihr Erregungspotenzial wie auch ihre Attraktivität. Immer wieder fällt der Satz: „Ich bin müde.“ Ein vielsagendes Schlusswort für eine Veranstaltungsreihe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, in Vorträgen einer unübersichtlichen Zeit zu begegnen. Keine langen Diskussionen mehr, sagt der Satz. Lieber gleich die Totalität. Kolja Reichert

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false