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Josep Caballero García ist Spanier und lebt seit 2006 in Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas

Josep Caballero García: In meinem Körper die Erinnerung

Strawinskys "Le Sacre du Printemps" ist vor 100 Jahren uraufgeführt worden. Der Choreograf Josep Caballero García befasst sich in seinem Tanzsolo „Sacres“ mit dem einstigen Skandalstück. Eine Begegnung.

Von Sandra Luzina

Es war einer der größten Skandale der Theatergeschichte: Das Strawinsky-Ballett „Le Sacre du Printemps“ schockte bei der Uraufführung durch die Ballets Russes am 29. Mai 1913 das Pariser Publikum. Doch nicht nur die Musik versetzte die Pariser Ästheten in Aufruhr. Als „Crime against Grace“ ist Nijinskys Choreografie in die Tanzgeschichte eingegangen. „Damals sind die Tänzer über ihre Grenzen gegangen“, erläutert Josep Caballero García beim Gespräch im Radialsystem in Friedrichshain. „Die Balletttänzer mussten auf einmal ihre Beine eindrehen, was eine völlig andere Haltung war. Und dann die komplizierten Rhythmen! Nijinsky hat nicht nur auf, sondern auch gegen die Musik choreografiert.“

Der spanische Choreograf hatte das Glück, in Pina Bauschs legendärer Neuinterpretation des „Sacre“ mit dem Titel „Frühlingsopfer“ zu tanzen – für ihn eine prägende Erfahrung. In seinem Solo „Sacres“ setzt er sich nun auf sehr persönliche Weise mit dem Werk und seiner Geschichte auseinander. Die Performance ist im Rahmen von „Tanz über Gräben. 100 Jahre ,Le Sacre du Printemps‘“ im Radialsystem zu sehen. Die internationale Konferenz beleuchtet ab Donnerstag die besondere Bedeutung des Stücks für die Tanzmoderne. Das Abendprogramm zeigt die künstlerischen Perspektiven der Choreografen auf das epochale Werk.

Josep Caballero García hat allerdings nicht auf das Jubiläum geschielt, als er vor fünf Jahren begann, sich damit zu beschäftigen. Er studierte Tanz in Barcelona und Angers und beendete seine Ausbildung an der Folkwangschule Essen. Nach Deutschland wollte er vor allem wegen Pina Bausch und schaffte es auch: Ab 1994 war er fünf Jahre als Tänzer für die große Choreografin tätig. Auch mit Urs Dietrich und Toula Limnaios hat er zusammengearbeitet. Seit 2006 lebt er als freischaffender Choreograf in Berlin. „Ich war zehn Jahre im Stadttheater und habe immer für andere getanzt“, erzählt er. „Nach Berlin bin ich gekommen, um nach neuen Wegen zu suchen. Doch dann bin ich wieder auf die Erinnerung in meinem Körper gestoßen.“

Homosexuelle Tänzer blicken anders als heterosexuelle

Josep Caballero García fing an, sich mit dem Thema „Gender“ zu beschäftigen – und mit der eigenen Biografie. Das Tanztheater mit seinen ewigen Geschlechterkämpfen war ihm zu stereotyp. Sein Stück „No rait of spring“ handelt vom Wunsch des männlichen Tänzers, einmal eine Frauenrolle zu interpretieren. Darin geht er von seiner eigenen Faszination aus. Vor allem das Solo der Auserwählten in Pina Bauschs „Frühlingsopfer“ hat es ihm angetan. „Wir Männer haben nebenher für uns das Opfersolo geübt“, erinnert sich der Choreograf. Und fügt ironisch hinzu: „Bei Pina waren eigentlich die Männer die Opfer, weil sie weniger aufregende Rollen bekamen als die Frauen.“ Außerdem fragte er vier bekannte Tänzer – Frank Frey, Martin Meng, Eric Miot und Jo Siska –, an welche weiblichen Rollen aus der deutschen Tanzgeschichte sie sich erinnern. „Die Sicht der Männer auf die weiblichen Rollen fand ich sehr spannend“, erzählt García lachend. Und natürlich sei der heterosexuelle Blick anders als der der homosexuellen Tänzer.

Bei der Arbeit an „No rait of spring“ wurde ihm bewusst, dass „Frühlingsopfer“ immer noch in seinem Körper gespeichert ist. Vor allem erinnert er sich an die ungeheure Energie, die die Choreografie in ihm entfesselt hat. „Das ist der Hammer“, schwärmt er. In seinem Solo „Sacres“ vertieft er nun noch mal die Auseinandersetzung. Ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen stellt er die Frage: „Wie kann man diesen Schockzustand heute wieder erleben? Ist das überhaupt reproduzierbar?“Besonders reizt es ihn, die Physikalität von Nijinksy und Pina Bausch zu vergleichen. „Beide arbeiten mit Einschränkungen“, sagt er. Bei Pina Bausch ist der Boden mit einer dicken Torfschicht bedeckt. Auf dem unsicheren Grund zu tanzen, ist eine Herausforderung. „Die Tänzer durchleben in jeder Aufführung einen Kampf“, sagt Garcia.

Bei seinen Recherchen war er selbst ebenfalls mit Beschränkungen konfrontiert. Strawinskys Komposition, so haben es die Erben festgelegt, darf nur in voller Länge gespielt werden. Postmoderne Strategien sind strikt verboten. Und auch die Pina Bausch Stiftung erlaubte ihm keinen Schritt aus der Choreografie. Aber er wollte den „Sacre“ ja sowieso in die Gegenwart holen, nach heutigen Formen der Entgrenzung suchen. Dabei stieß er auf die Hardcore-Punkband Full of Hell, deren Konzerte düsteren Ritualen gleichen.

García isoliert die Bewegungsprinzipien und variiert sie auf seine Weise

„Das ist nicht ,Sacre du Printemps‘“ schreibt Garcia zu Beginn der Performance auf eine Papierbahn. Und unterläuft in der Aufführung dann die Urheberrechtsverfügung: Er setzt sich Kopfhörer auf, lauscht dem Spiel der Pianistin Anna Kirilowa. Die Zuschauer aber hören keinen einzigen Ton Strawinsky, sondern nur Noise Music. Sein Solo „Sacres“ ist unauflösbar mit der Urheberrechtsdebatte verknüpft – das verleiht ihm Aktualität. Garcia stellt ganz grundsätzliche Fragen: Was darf man heute zeigen? Und was macht den Original-„Sacre“ aus?

Wie er das Material dekonstruiert, ist überaus fesselnd. Er isoliert die Bewegungsprinzipen und variiert sie auf seine Weise. Er stampft den Rhythmus mit den Füßen, ballt die Fäuste, wirft den Kopf herum wie beim „Headbanging“. Die stoßenden und schlagenden Bewegungen werden wiederholt bis zur völligen Ekstase. Doch er zeigt auch die bekannten Pop-Posen der Entgrenzung – was ziemlich komisch ist.

In seinem nächsten Projekt möchte er mit einem queeren B-Boy aus der HipHop-Szene zusammenarbeiten. In Berlin habe er zu einer neuen künstlerischen Sprache gefunden, sagt Garcia. „Es ist eine sehr offene Stadt. Jeder kann nach seiner Facon leben. Das war auch der Grund, weswegen ich hergekommen bin.“ In seiner Heimat findet dagegen ein Backlash statt, glaubt er. Spanien hat zwar 2005 als eines der ersten Länder der Welt homosexuellen Paaren nicht nur die Eheschließung, sondern auch die Adoption von Kindern erlaubt, aber die Konservativen würden das Gesetz am liebsten wieder abschaffen. „Man muss darauf reagieren als Künstler“, findet er. Ihn treibt die Frage um, ob es eine Körperlichkeit jenseits von Genderzuschreibungen gibt – und das ist auch ein politisches Statement.

„Tanz über Gräben. 100 Jahre ,Le Sacre du Printemps‘“, 14.–17.11., Radialsystem V. „Sacres“ von und mit Josep Caballero García, 15.11., 20 Uhr, Radialsystem. „Sacré Sacre du Printemps“ von Laurent Chétouane und „Sacre 100“, 14.–17.11., HAU 2.

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