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Zum Irrewerden. Judith Rosmair beim Versuch, Anna Karenina zu spielen.

©  Ebby Koll

Judith Rosmair in "Curtain Call": Anna und die Albträume

Eine Schauspielerin am Rande des Nervenzusammenbruchs: Judith Rosmair und ihre großartige Performance „Curtain Call“ in den Sophiensälen.

Es ist einsam in Tolstois sibirischer Textsteppe. Der Kampf an dieser Ostfront der Weltliteratur scheint aussichtslos. Kurz vor der Premiere hat der Regisseur mal eben 30 Seiten neuen Text reingereicht, den soll die Schauspielerin auswendig lernen. Oder einfach improvisieren. „Anna Karenina improvisieren – hallo?“ Ist ja ohnehin schon eine Anmaßung, den 1200- Seiten-Wälzer auf die Bühne wuchten zu wollen. Und überhaupt: diese Karenina macht krank. Eine Nervtante ist das, „so verloren, so verquer, folgt ihrer Leidenschaft, verlässt Mann und Kind, lebt mit ihrer großen Liebe Wronskij auf dem Land“. Und da hockt sie dann, während der Lover sich in der Oper verlustiert. Driftet ab in Eifersucht, Paranoia, Morphiumrausch und Weltekel. Bis sie sich schließlich vor den Zug wirft. Zum Irrewerden. Und bald geht der Vorhang auf.

Die Schauspielerin Judith Rosmair spielt in der Performance „Curtain Call!“ eine Schauspielerin am Rande des Nervenzusammenbruchs. Auf der kargen Podesterie im Hochzeitssaal der Sophiensäle liegt sie auf dem Rücken und versucht zur Ruhe zu kommen. Ringt mit fiebrigen Tolstoi-Fantasien und Schlaflosigkeit. Das Theater: ein Albtraum. Wie im Zeitraffer wirft sie sich ins Kostüm, Fellmütze und -stiefel, führt Streitgespräche mit der unsichtbaren Regie: „Ich – scheiße vorbereitet? Ich habe ‚Anna Karenina’ zehn Mal gelesen!“ Zu allem Unglück hat sie sich auf Probe auch noch verliebt. Ausgerechnet in den Wronskij-Darsteller, diesen Schönling, der gern mit nackter Brust vor den Assistentinnen balzt. Beim Tanzen ist es passiert, bei der Ballszene. Spiel und Realität, wer kann da schon unterscheiden?

Rosmair ist eine grandiose Perfomerin der produktiven Verzweiflung

Rosmair, vormals im Ensemble der Schaubühne, jetzt freischaffend, stemmt das Projekt als Autorin, Produzentin und grandiose Performerin der produktiven Verzweiflung. Für die Regie hat sie sich Johannes von Matuschka engagiert, auf der Bühne steht ihr Musiker Uwe Dierksen vom Ensemble Modern zur Seite, der überwiegend mit Posaune den nervös-jazzigen Soundtrack zum Überforderungszustand schafft. Eine Karenina-Kakofonie. Er wirft die Hammond-Orgel an, zitiert Birkins und Gainsbourgs „Je t’aime“ – ein glückliches, organisches Zusammenspiel ist das, im Dämmerreich zwischen Schlaf und Wachen, Wahn und Wirklichkeit.

„Curtain Call!“ ist ein Herzensprojekt. Spürbar persönlich, aber nicht privat. Rosmair nimmt im Gegenteil gerade das Theaterverlangen hoch, biografisches Material zum Zwecke der forcierten Einfühlung und Wahrhaftigkeit auszubeuten, steigert sich in eine kleine Hassrede auf den patriarchalen, chauvinistischen Theaterbetrieb, der für Schauspielerinnen überwiegend das sterbende Mädchen vorsieht. Nur um gleich darauf den radikalfeministischen Gegenentwurf à la Anne Tismer mit ihren „Woyzeckine“-Performances auch zu karikieren.

Sie ist ja keine Dogmatikerin. Rosmair, 2007 in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ zur Schauspielerin des Jahres gewählt, bewegt sich mit schöner Selbstverständlichkeit zwischen Edelboulevard (aktuell am Renaissance-Theater in „Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel“), freien Projekten, Film und selbst initiierten Performances wie dieser. „Curtain Call!“ erzählt von Kunst, die sich ins Leben frisst. Von Höhen und Horror des Theaters. Zu den schönsten Szenen zählen die Kindheitserinnerungen. Bitterkomisch, wenn die als magersüchtig geschmähte Schauspielerin an eine Kartoffelkur in der Kinderklinik zurückdenkt. Und berührend pur, wenn die Mutter der Schauspielerin ihrer Tochter, dem „kleinen Vogerl“, oft aus „Anna Karenina“ vorgelesen hat und dabei die allzu verfänglichen Passagen zensierte.

Man merkt in jeder Szene (wie schon beim tollen Solo „Frühstück bei Tiffany“, das noch an der Schaubühne entstand), wie sehr sie dieser Roman entzündet. Und man würde Judith Rosmair gern mal als Anna Karenina sehen.

noch am 27. und 28. März, 20 Uhr

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