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Judith Zander: Enge Jugend, weites Land

"Dinge, die wir heute sagten" erzählt von vorpommerschen Einsamkeiten. Leicht macht es Zander ihren Lesern nicht

Eine Kneipe gibt es schon lange nicht mehr im Bresekow. Überhaupt kein Zentrum, wo man sich treffen könnte. Nur eine leere Mitte, die Elpe, wo eine Dorfjugend herumhängt, „säuft, bumst und Mist baut“. Von kurz hinter Berlin bis nach Rostock ein ausgedehntes Nichts, und das Dorf bei Anklam nur mehr „Sammelstelle für Bekloppte“, wie Romy Plötz ihren Vater Friedhelm zitiert. Dann stirbt die alte Anna Hanske, die schon immer anders war, eine, die sich nichts sagen ließ und ein zugelaufenes Kind großzog, alleine. Zur Beerdigung taucht ihre Tochter Ingrid aus Irland auf, nebst Mann und dem halbwüchsigen Paul.

Vor ihrem 25. Geburtstag war Ingrid verschwunden aus Bresekow, hatte rübergemacht in den Westen und ihrer Mutter nur Henry, den geistig zurückgebliebenen dreijährigen Sohn, hinterlassen. Ingrids plötzliches Auftauchen und Paul, der als Reinkarnation von Paul McCartney Mädchenköpfe verdreht, setzen eine Erzählmaschinerie in Gang, die mit Rücksicht auf die maulfaulen „Fischköppe“ und das Geheimnis, das sie verbergen, nur monologisch vorangetrieben wird.

Drei Familien über vier Generationen sowie Nebenfiguren umfasst das Drama, das die bisher als Lyrikerin hervorgetretene Judith Zander in ihrem ersten Roman „Dinge, die wir heute sagten“ inszeniert. Dabei verweist schon der Anachronismus im Titel auf die Verschiebungen und Brüche und auf ein fiktives Kollektiv, das seine Verbindungen erst in einer komplizierten Synchronisation offenbart.

Leicht macht es Zander ihren Lesern nicht. Man muss, je nach Auffassungsgabe, bis zu hundert Seiten hinter sich bringen, um Familienverhältnisse und Beziehungsgeflechte halbwegs auf die Reihe zu bringen. Die Großelterngeneration wird zusammengehalten von Maria Wachlowski, die sich in stiller Zwiesprache mit der verstorbenen Anna an Kindheit und Jugend in der Kriegs- und Nachkriegszeit erinnert. Als Katholische war Maria ebenso Außenseiterin wie Anna, nur dass sich ihrer beider Status nach dem Krieg umkehrte und Maria irgendwann nicht mehr wusste, ob sie neidisch sein sollte auf Anna, die sich angeblich für was Besseres hielt und auch „keen Platt verstooht“. Was Maria von Anna geblieben ist, „is, wie du geredet hast. Das Hochdeutsch.“

In gewisser Hinsicht wiederholt sich die Geschichte dieser Freundschaft in der Enkelgeneration, obwohl es zwischen der introvertierten, arrogant sich gebenden Romy Plötz und der zur Betreuung ihrer Großmutter Maria abgestellten, bräsigen Ella Wachlowski wenig Gemeinsamkeiten zu geben scheint: „strange“ die eine, „weird“ die andere. Einig sind sie sich in ihrer Abneigung gegen die Elpe und deren Stammpublikum und der heimlichen Bewunderung für Paul Ishley, der die beiden 17-Jährigen zusammenführt.

Die Zwischengeneration wird repräsentiert von Ingrid und den Eltern der beiden Mädchen, deren kleines Leben zwischen der alten DDR und der neuen Bundesrepublik eingezwängt ist. Während das Lehrerpaar Plötz zu DDR-Zeiten in der Subkultur mitschwamm und Ella auch später noch mit den „Büdels“ traktierte, schlägt sich das Einzelkind Romy mit Erzeugern herum, die zwischen Abstiegsangst, Alkohol und religiöser Erweckung schwanken. Die eingestreuten Versatzstücke alter Beatles-Songs schlagen leitmotivisch Schneisen: Einsamkeit und vorenthaltene Liebe, Abschied und Aufbruch.

Das Personal wird komplettiert durch Henry, der in einem Heim lebt, den Dorfpfarrer und Ecki, der der perspektivlosen Landjugend die Stimme gibt. Judith Zander legt Wert auf die Erzählhaltungen und ein sozial verortetes Sprechen, das von einem dem 18. Jahrhundert entliehenen Honoratiorendeutsch (Pastor Wietmann) über den gespreizten Tagebuchstil Romys bis zum Plattdeutschen reicht. Letzteres strapaziert Unkundige besonders in den Passagen, in denen „die Gemeinde“ als Chor die Handlung kommentiert.

Wirken die Sprachgesten mitunter angestrengt, bemisst Zander die Erzähldistanzen präzise. Während Maria mit der toten Anna spricht, kann sich Ingrid, dem Dorf entfremdet, nur in der zweiten Person Singular wahrnehmen; der behinderte Henry wiederum muss auf ein „Er“ zurückgreifen. Das „Ich“ aller übrigen wendet sich indessen an ein abwesendes Publikum. Die dörfliche Schweigekultur ist so beklemmend, dass selbst dort, wo die Vorhänge zurückgezogen werden, alles wieder unterm Gras der Elpe verschwindet: „Weiß man was, wenn man nicht wissen will?“

Diese manchmal lust-, in anderen Fällen qualvolle Introspektion fördert aber nicht nur einen vergessen geglaubten Skandal ans Tageslicht. Die Qualität von Zanders Erzählweise besteht darin, aus diesem Personal eine Sozialstudie des Dorfes zu destillieren, die auch dadurch, dass es sich um einen Landstrich der DDR handelt, der schon Uwe Johnson zu „Mutmassungen“ anregte, nichts von ihrer Allgemeingültigkeit verliert. Das soziale Auf und Ab, das Ausgrenzungsverhalten ebenso wie die dörfliche Solidarität, die Komplexe gegenüber den Städtern, der „ewig freiwillige Zwang“ und die Gewaltverhältnisse: All das ließe sich auch in einem Dorf in Niedersachsen oder im Schwarzwald finden.

Wo es Zander darüber hinaus gelingt, sich als Lyrikerin in ihre Prosa einzumischen, die Rhythmus und Bildsprache bestimmt, entstehen dichte Bilder und sprechende Motive. Sogar ein banales Kleidungsstück wie eine Strumpfhose wird dann zum Zeichen: Schutz und Schild für Romy, die „keine Prinzessin“ sein will, für Henry Symbol der Begierde. Strumpfhosenlöcher bringen seine Fantasie auf Abwege wie die Lücken in den Annalen so manchen Dorfbewohner.

Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten. Roman.

DTV, München.

479 Seiten, 16,90 €.

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