zum Hauptinhalt
Ein Aufklärer, ein Berliner. Moses Mendelssohn (1729-1786).

© akg-images / Science Source

Jüdische Diasporaerfahrung als Vorbild für Geflüchtete: Sprache ist der Schlüssel

Integration ohne Identitätsverlust: Das Wunder des Überlebens der Juden trotz Ausgrenzung, Flucht und Tod. Entscheidend war der Glaube an die Macht des Lernens.

Seit 2000 Jahren leben Juden als Minderheit. Sie waren die Ersten, die mit mehreren Identitäten lebten, als Juden und zugleich als Römer, Spanier, Polen oder Russen. Ohne Land und Staat war die Kultur ihre Heimat, beginnend mit der Heiligen Schrift und dem Talmud, dem Kompendium der Gesetze und Auslegungen. Im Zuge der Emanzipation kam die weltliche Kultur hinzu: die Künste und Wissenschaften. Die Kinder lernten schon mit vier Jahren schreiben und lesen.

Seit Titus 70 n. Chr. Jerusalem niederbrannte und triumphierend mit seinen jüdischen Gefangenen und der goldenen Menorah als Kriegsbeute in Rom einzog, siedeln Juden auf der ganzen Welt, leben unter und mit der Mehrheitsgesellschaft und gaben doch ihre Kultur und ihre Religion nie auf, obwohl der Preis unerträglich war: Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung.

Aber welch Wunder! Zahllose Völker und Stämme sind seitdem aus der Geschichte verschwunden: Babylonier und Assyrer, Markomannen und Langobarden. Sie sind in ihrer Umgebung aufgegangen.

Die Juden haben auf ihre Weise weitergebetet, blieben das Volk des Buches und gingen, wo ihnen Handwerk und Landbesitz versperrt waren, ihren Geschäften als Händler, Lehrer oder Geldverleiher nach. Sie sprachen die Sprachen der Mehrheitsgesellschaft und untereinander ihre eigenen Mundarten.

Überleben trotz Ausgrenzung

„Wieso findet es niemand erstaunlich“, fragte der amerikanische Schriftsteller Walker Percy (1916-1990), „dass es in den meisten Weltstädten Juden gibt, aber nicht einen einzigen Hethiter, obwohl die doch eine blühende Zivilisation hatten, während die Juden, nicht weit entfernt, ein schwaches und obskures Volk waren? Wenn man einen Juden in New York oder New Orleans oder Paris oder Melbourne trifft, ist es erstaunlich, dass man es nicht erstaunlich findet. Was machen sie hier? Aber es ist noch bemerkenswerter, dass es hier überhaupt Juden gibt, aber keine Hethiter. Zeig mir einen Hethiter in New York.“

Diese Frage wirft ein Licht auf das Wunder des Überlebens der Juden trotz Ausgrenzung, Flucht und Tod. Es regierte die Anpassung, die Integration ohne Selbstaufgabe. Sie haben jahrhundertelang ihre Kultur und ihren Glauben trotz steten Wanderns nicht aufgegeben. Sie haben mit ihrer Liebe zum Lernen, insbesondere nachdem sie im 19. Jahrhundert endlich die Bürgerrechte bekamen, sehr schnell in allen Berufen reüssiert, die ihnen zuvor verschlossen geblieben waren.

Die Väter waren „Koofmichs“, die Söhne Ärzte, Juristen, Banker, Wissenschaftler, sogar Offiziere, oder sie tauchten in die geistig-künstlerischen Berufe in Theater oder Publizistik ein. Das spielte sich in atemberaubender Geschwindigkeit ab.

In Zeiten von Modernisierung und Wirtschaftswachstum zählten Talent und Umtriebigkeit mehr als Herkunft und Glaube. Im Jahre 1910 machten die Juden in Deutschland etwa ein Prozent der Bevölkerung aus, doch stellten sie prozentual sechsmal so viele Ärzte und fünfzehnmal so viele Anwälte und Notare.

Rote Teppiche hat man ihnen nie ausgelegt

Das alles entfaltete sich nach der Gleichstellung der Juden 1871, dem Jahr der Reichsgründung, in einer Generation. Atemberaubend war das Tempo in der Naturwissenschaft. Die Söhne der Trödler studierten in übermäßig hoher Zahl (in Berlin 17-mal mehr, als ihrem Bevölkerungsanteil entsprach), und sie bescherten dem Deutschen Reich ein Drittel seiner 30 Nobelpreise.

Wie haben sie das geschafft? Rote Teppiche hatte man ihnen nie ausgelegt, staatliche Förderung für Benachteiligte oder Ausgeschlossene gab es nicht. Der Übertritt zum Christentum war auch nicht ihr Schlüssel zum Erfolg, wie Heinrich Heine ernüchtert notierte, der gewähnt hatte, die Taufe sei ein „Entree-Billet“ in die feine Gesellschaft. Was dann? Ehrgeiz, Fleiß und harte Arbeit.

Stellvertretend mag dafür die Geschichte des Hermann Makower (1830- 1897) stehen. Sein Vater stammte aus Russland, hatte heimlich Deutsch gelernt und sich westwärts nach Posen durchgeschlagen. Dort arbeitete er als Hauslehrer und brachte sich als Autodidakt eine aufklärerische Bildung bei.

Für den Sohn Hermann reichte ihm das Provinzgymnasium nicht, er hatte höhere Pläne. „Alle Zivilisation kommt vom Westen. Man muss ihr entgegengehen“, war sein Credo, und so schickte er den neunjährigen Knaben ins ferne Berlin aufs Französische Gymnasium.

Der Glaube an die Macht des Lernens

Der Sohn hatte kaum genug zu essen, konnte sich Hefte und Bücher nicht leisten. In seinen Jugenderinnerungen schreibt Makower: „Die Lehrer drängten und waren böse, dass die Bücher von mir nicht (in die Schule) mitgebracht wurden. Ich wollte auch nicht das Mitleid meiner Mitschüler empfinden. Ich erhielt manchen Tadel. Ich lernte damals, ungerecht zu leiden.“

Der junge Makower gewann allmählich Freunde, wurde gelegentlich zum Mittagstisch eingeladen und schloss schließlich mit dem besten Abitur an seiner Schule ab. Der Bub, der schon mit neun Jahren verkündet hatte, Advokat werden zu wollen, wurde tatsächlich Jurist und machte als Justizrat in Berlin eine glänzende Karriere. Er hatte die Hoffnungen seines weitsichtigen Vaters „voll erfüllt“.

Derartige Biografien sind typisch für das 19. Jahrhundert. Der Glaube an die Macht des Lernens war unter Juden so tief verwurzelt, dass er Missgeschick und bitterster Armut widerstand. In der Bundesrepublik kann man derlei Zielstrebigkeit unter den jüdischen Kontingentflüchtlingen aus der Sowjetunion beobachten.

Die Eltern mussten von der Grundsicherung leben, weil sie kein Deutsch konnten und ihre Zeugnisse nicht anerkannt wurden. Die Kinder aber schickten sie aufs Gymnasium, wo sie Begabten-Stipendien ergatterten. Ihr prozentualer Anteil unter den Einwandererkindern ist weitaus geringer, als ihre hohe Zahl an Stipendiaten vermuten lässt.

Lesen und Schreiben als Schlüssel

Woher die Zielstrebigkeit und der Ehrgeiz? Ist immer wieder neu anzufangen, neue Sprachen zu lernen, stets fliehen zu müssen ein Teil der jüdischen DNA? Gestern aus Spanien oder England vertrieben, dann in den Rheinlanden durch Pogrome und Mord dezimiert, weiter gewandert nach Osten. In Polen und Russland war blutrünstige Verfolgung das normale Begleitprogramm.

Und doch haben sie immer wieder ihren Sabbat gefeiert, ihre Speisegesetze eingehalten, ihre Feste gefeiert; sie haben sich nicht geduckt, aber zu aufmüpfig durften sie keinesfalls sein. Sie handelten mit den Christen, lebten unter den Christen und hatten doch ihr eigenes Netzwerk.

Im späten 19. Jahrhundert errangen die Juden in Europa Bürgerrechte, die gesellschaftliche Gleichstellung wurde ihnen aber verwehrt. Das war auch im Rom nach der Zerstörung des Tempels nicht anders. „Die Juden revanchierten sich dafür aber auf wirtschaftlicher und vor allem kultureller Ebene“, erklären Anna Foa und Giancarlo Lacerenza in „Jews, an Italian Story: The First Thousand Years“ in der Einführung zur gleichnamigen Ausstellung in Ferrara.

Wie sie das als Außenseiter schafften? Die Autoren nennen nur ein Wort „literate“. Sprachkundig. Die Juden konnten selbst in den niederen Schichten lesen und schreiben. Das war in einer Welt ohne Massenalphabetisierung der Schlüssel zu Unabhängigkeit und Fortkommen.

Hebräisch setzt sich durch

Bis ins 9. Jahrhundert verließen sich die Juden des mediterranen Raumes auf lokale Sprachen und Dialekte. Dann setzte sich Hebräisch durch und geriet zum Schmiermittel der Mobilität. Die Sprache erleichterte den italienischen Juden das Überqueren von Grenzen; Hebraisierung wurde zum einigenden Band der verstreuten Gemeinden.

Diese jüdische Weltsprache beförderte die Globalisierung der europäischen, zumal der italienischen Juden. Der Zwilling dieses Trends war Integration durch die Beherrschung der örtlichen Sprachen: Polnisch in Polen, Arabisch in Marokko, Deutsch in Deutschland. Es war Integration, nicht Assimilation, welche die Juden bis zur Unkenntlichkeit aufgesogen hätte.

Dass sie untereinander ihre eigenen Sprachen nutzten, Ladino in Spanien, Jiddisch von Deutschland bis Russland, änderte nichts an ihrem Willen zur Eingliederung, der die Fähigkeit voraussetzte, mit ihren christlichen oder muslimischen Nachbarn kommunizieren zu können.

Erfolgreiche Biografien

So konnte George Weidenfeld, ein Flüchtling aus Wien, ein englischer Verleger und Lord werden und dennoch ein Jude bleiben. So konnte Abraham Sofaer, ein Flüchtling aus Bagdad, über Bombay nach Amerika gelangen. Er stieg zum juristischen Berater Ronald Reagans und zum Bundesrichter auf und konnte dennoch ein bekennender Jude bleiben.

So konnte Louis Begley die Schoah überleben und in Amerika ein bedeutender Anwalt und berühmter Schriftsteller werden. Claude Lanzmann, Enkel osteuropäischer Einwanderer, machte Furore als französischer Literat und Dokumentarfilmer und blieb doch ein Jude.

Giorgio Bassani schreibt in seinem in Ferrara spielenden Roman „Die Gärten der Finzi-Contini“, dass „die Juden in welchem Teil der Erde, unter welchem Himmelstrich die Geschichte sie auch zerstreut hat, immer Juden sind und Juden sein werden, das heißt nahe Verwandte.“

Moses Mendelssohn beherrschte das Deutsche so gut, dass er Friedrich den Großen dafür tadelte, dass er Gedichte auf Französisch statt auf Deutsch schrieb. Ausgerechnet der „geduldete“ Jude, der Sohn eines armen Thoraschreibers, war ein Meister deutscher Prosa, der den Preußen Deutsch beibrachte. Und doch war er immer Jude geblieben.

Integration ohne Identitätsverlust

Juden in aller Welt lesen bis zum heutigen Tage den gleichen Text zum Passahfest, aus dem Ostern hervorging, und beten zum Schluss: „Nächstes Jahr in Jerusalem.“ In jeder Synagoge, ob in Amerika oder China, wird Richtung Jerusalem gebetet. Das ist das Geheimnis der jüdischen Dauerpräsenz auf dieser Welt.

Als Hauptstadt Israels errichtet, während die nunmehr ausgestorbenen Hethiter noch die Region regierten, ist es über 2000 Jahre der zentrale Bezugspunkt der Juden geblieben. „Vergesse ich dich, Jerusalem“, heißt es in Psalm 137, „so soll mir die rechte Hand verdorren.“

Selbst der getaufte Jude Benjamin Disraeli, Premierminister unter Königin Victoria, bezog sich auf die Bindung an Jerusalem. So schleuderte er einem antisemitischen Gegner im Parlament entgegen: „Während die Ahnen des hochverehrten Gentleman noch brutale Wilde auf einer unbekannten Insel waren, waren meine Priester im Tempel Salomons.“ Die eigene Kultur als Anker zu ehren erlaubt die Integration ohne Identitätsverlust – 2000 Jahre lang.

Es gelang nicht zuletzt die Integration in ein fremdes Land namens Israel, das Juden aus achtzig Ländern zur Nation vereint hat. Einfach war es nicht, Einwanderer aus Berlin, Moskau, Mumbai, Bagdad oder Rabat zusammenzuschweißen. Am Anfang stand, und steht heute noch, der Ulpan, die Sprachschule, wo die Neuen die gemeinsame Sprache lernen müssen.

So bekamen alle die gleichen Startbedingungen; Jiddisch, Russisch oder Arabisch mussten zurückstehen. Dann folgt die Schule der Nation, die Armee für (fast) alle, Männer wie Frauen, wo sich jeder auf jeden verlassen können muss.

Frühe Ungerechtigkeiten

Zwang sollte sich in diesem Fall als Segen entpuppen; die gemeinsame Sprache und der gemeinsame Dienst waren das Tor zu Integration und Aufstieg. Nicht dass es nach der Staatsgründung 1945 besonders gerecht in Israel zuging.

Die Aschkenasen, die alte Elite der mittel- und osteuropäischen Juden, blickte mit Verachtung auf die Sepharden aus Arabien und Nordafrika hinab (ähnlich wie heute manche auf die äthiopischen Juden), die mit ihren Händen arbeiten und in unwirtlichen Gegenden, gar in Zeltstädten leben mussten. Doch mittlerweile heiraten Aschkenasen und Sepharden einander, sind die Kinder der Sepharden Generäle, CEOs und Minister.

Sprache ist Trumpf, flüstert diese Erfolgsgeschichte. Und Bildung, Bildung, Bildung – ein 2000 Jahre altes jüdisches Rezept. Der ehemalige israelische Bildungsminister Naftali Bennet erklärte einmal reuevoll: „Wir haben verstanden, dass das Bildungssystem der Geschichte und Kultur eines Teils der israelischen Gesellschaft nicht genug Rechnung getragen hat.“ Es könnte sich lohnen, wenn die verschiedenen europäischen Integrationsbeauftragten sich die israelische Erfahrung etwas genauer anschauten.

Herkunft kein Aufstiegshindernis

Ein anderes Erfolgsgeheimnis wurzelt in der uralten jüdischen Geschichte. Die Juden waren routinemäßig die Opfer, wollten es aber nicht sein, weil das Opferdasein den Willen zur Selbsthilfe lähmt. „Als Opfer identifiziert zu werden macht die Probleme nur schlimmer“, erklärt Faisal Devji, Südasien-Historiker in Oxford.

Der kleine Hermann Makower hatte schon mit zehn Jahren kapiert, dass das Mitleid seiner Mitschüler ihn nicht weitergebracht hätte. Anrechtsdenken, das manchen modernen Flüchtling auszeichnet, konnten sich die Juden nie leisten.

Sie konnten vom Staat nichts erwarten. Der moderne Wohlfahrtsstaat liefert zu Recht Übergangshilfen und Werkzeuge; sein Schicksal aber muss der Empfänger selber in die Hand nehmen, um zu reüssieren.

Kann man Unbeugsamkeit, Strebsamkeit, Ehrgeiz lernen? Manche Flüchtlingsbiografien aus unseren Tagen zeigen diese Eigenschaften. Für die anderen müsste es heißen: Sprachkurs, Schule, Ausbildung oder Universität. Glaube und Herkunft sind dann Teil der Identität, aber kein Aufstiegshindernis.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false