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Im spirituellen Erdenrund. Christian Knorr von Rosenroths „Kabbala Denudata“ (1677). Foto: imago/United Archives International

© IMAGO

Jüdische Mystik: Wenn Gott sich in sich selbst zurückzieht

Vom Anfang der Welt: Christoph Schulte untersucht in seinem Buch „Zimzum“ einen Zentralbegriff der jüdischen Mystik.

Als Ulla Berkewicz 1997 ihre Gegenwartserzählung über die Langeweile „Zimzum“ betitelte, war das für die meisten Rezensenten eine Provokation. Wie konnte man die Bedeutungslosigkeit, Obszönität und Zivilisationsleere von Mittelstandsexistenzen unserer Zeit mit einem exotischen Begriff der jüdischen Mystik in Zusammenhang bringen?

Das hebräische Wort Zimzum, das man mit Zusammenziehung, Begrenzung, Selbstbeschränkung oder Konzentration übersetzt, gilt als eine schillernde Denkfigur des im 16. Jahrhundert lebenden Kabbalisten Isaak Luria. Er habe, so wird überliefert, in seiner Lehre erklärt, wie Gott die Welt schuf: nämlich aus sich selbst heraus durch Einschränkung.

Inzwischen wird Zimzum aber nicht nur als ein Traditionsbegriff spekulativer Religion verstanden, sondern auch als eine magische Symbolformel und Maxime für moderne Kunst, Kultur und gesellschaftliches Management. So tritt zum Beispiel der amerikanische Heavy-Metal-Gitarrist Timothy Michael Linton schon seit Jahren unter dem Künstlernamen Zim Zum auf – und auch Madonna bekennt sich öffentlich zu einer popularisierten Kabbala-Version, die den Weltursprung als eine Mixtur von Zimzum und Big Bang begreift.

2012 wurde die Verfilmung des Romans „Life of Pi“ (Schiffbruch mit Tiger) von Yann Martel zu einer Erfolgssensation nicht zuletzt wegen des mythischen Hintergrundes der beindruckenden Bilder. Der untergegangene Frachter trug den Namen Tzimtzum, und der einsame Überlebende, der mit einem Tiger auf engstem Raum gegen archaische Naturgewalten kämpft, heißt Pi, so wie jene irrationale Zahl, die einen unendlichen Kreis in eine abgemessene Linie verwandelt.

Am eindeutigsten stellt sich als Künstler heute wohl der Maler Anselm Kiefer mit der Eigeninterpretation seines Bildes „Zim-Zum“ in die ursprüngliche Tradition. Er beruft sich explizit auf Isaac Luria als den „Erfinder“ der „Idee des Rückzugs, aus dem etwas entsteht“. Doch was beinhaltet diese „ursprüngliche“ Lehre tatsächlich? War es mehr als ein Gleichnis? Und existiert wirklich eine durchgängige Tradition? Das Problem ist, dass es keine einzige von Luria geschriebene Zeile zum Zimzum gibt. Ein authentischer Urtext existiert nicht. Wir haben nur die Überlieferungen der Schüler und die Rezeptionsgeschichte von immer neuen Zimzum-Interpretationen. Nun ist der in Potsdam Philosophie und Judaistik lehrende Christoph Schulte in einer materialreichen Studie den Spuren des Zimzum in allen erreichbaren Quellen quer durch die jüdische und christliche Geistesgeschichte Europas und Nordamerikas in mehr als vier Jahrhunderten gefolgt – hat „gesucht, gesammelt, dokumentiert, rekonstruiert, übersetzt und interpretiert“.

So treffen sich im 17. und 18. Jahrhundert unterm gemeinsamen Zimzum-Dach Spinoza oder Goethe – und im 19. und 20. Jahrhundert Hegel, von Brentano, Schelling, Molitor, Else Lasker-Schüler, Franz Rosenzweig, Isaak Bashevi Singer, Teitelbaum oder Habermas.

Dabei beantwortet er allerdings bewusst nicht die Frage, mit der sich schon der Kabbala-Forscher Gershom Scholem herumplagte, nämlich „was der ,Zimzum‘ denn nun sei: Symbol oder Begriff, Mythos oder Lehre, Idee, Konzept oder Akt?“. Schulte gibt den Ball an den Erfinder zurück mit dem Hinweis, dass es „Lurias Geheimnis blieb“, ob der Zimzum als „vorweltliche Realität oder Metapher des Ursprungs“ gedacht war. Er begnügt sich mit der Vermutung, dass Isaak Luria „zweifellos meinte, dank göttlicher Inspiration vom ,Zimzum‘ zu wissen“, und versucht, aus der facettenreichen Rezeptionsgeschichte der mündlichen Überlieferung eine Erkenntnis abzuleiten: In der „Vielheit und Verschiedenheit“ der Interpretationen jener Idee „von der Selbstbeschränkung Gottes“ offenbare sich der Zimzum als Gedanke, in dessen Wirkungsgeschichte sich – teils rational, teils assoziativ und symbolisch – Theosophie und Philosophie, Göttliches und Menschliches, Jüdisches, Christliches, Mystik und Literatur, Kabbala und Musik, Psychotherapie und Kunst begegnen, mischen und befruchten. Auf diesem offenen Feld lässt der Autor es dann zu spannenden und verblüffenden Begegnungen kommen.

So treffen sich zum Beispiel im 17. und 18. Jahrhundert unterm gemeinsamen Zimzum-Dach Spinoza, Knorr von Rosenroth, Anne Conway, Newton, Leibniz, Maimon, Goethe, Jacobi, Brucker oder Oetinger – und im 19. und 20. Jahrhundert Hegel, von Brentano, Schelling, Molitor, Else Lasker-Schüler, Franz Rosenzweig, Isaak Bashevi Singer, Teitelbaum oder Habermas. Bei der flächendeckenden Ausbreitung eines „so bunten und ansehnlichen Teppichs europäischer und zuletzt auch nordamerikanischer Geistes- und Religionsgeschichte“ mit lurianischem Muster geht ein wenig die Frage unter, welche Rolle Zimzum-Ideen bei Aufständen im Inneren des jüdischen Bewusstseins (Sabbatianismus) und bei der Überwindung der sichtbaren und unsichtbaren Mauern der Ghettos (Haskala) gespielt haben könnten.

Gershom Scholem zum Beispiel hat den Beginn der modernen jüdischen Geschichte mit dem Auftritt des messianischen Häretikers Sabbatai Zwi datiert. Er wird in Schultes Text zwar erwähnt, in der abschließenden Grafik zur Rezeptionsgeschichte aber fehlt er – ebenso Moses Mendelssohn und Lessing. Es scheint so, als ob der Autor auch die „kritische bis despektierliche Haltung“ der Aufklärer Salomon Maimon und Peter Beer nicht wirklich für Zimzum-kompatibel hält, weil sie im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert die Kabbala wenig gottesfürchtig als „eine Kunst, mit Vernunft zu rasen“ bezeichneten.

Heute jedoch, angesichts „fortschreitender, zerstörerischer Ausbeutung des Planeten Erde und der Menschen“ lasse sich eine „Denkfigur kosmischer wie menschlicher Zurückhaltung“ auch „ohne theologische Vorzeichen“ mit allen aufklärerischen Botschaften vereinbaren. Also doch ein Rasen mit Vernunft?

Christoph Schulte: Zimzum. Gott und Weltursprung. Jüdischer Verlag, Berlin 2014. 501 S., 35 €. – Buchvorstellung am 30. 10. um 19.30 Uhr im Jüdischen Museum.

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