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Jürgen Flimm

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Jürgen Flimm zum Berliner Theaterstreit: Der Ruf Berlins steht auf dem Spiel

Was wird aus der Volksbühne? Jürgen Flimm, Intendant der Berliner Staatsoper, plädiert im Gastbeitrag gegen eine öde Eventkultur. Er ist überzeugt: Castorfs radikaler Weg muss weitergehen.

Ein Gespenst geht um in Berlin, das Gespenst des Events. Es wabert durch Kommentare, durch Interviews, Chefetagen, Redaktionsbüros, Solidaritätsadressen, durch Theaterkantinen. Eine längst überfällige Debatte beginnt, allerdings ein bisschen spät. Die Frage ist: Wie steht es um unseren in den letzten Jahren so vielfältig aufgefächerten Kulturbegriff, und wie ist das mit dem sogenannten Event?

Versuchen wir es noch mal von vorn: Events sind eine Sorte von Inszenierungen einzelner, punktueller Ereignisse, welche ohne Zusammenhänge wie die Pilze aus sattem Kulturboden hochschießen, oft gut gefördert und nachdrücklich gesponsert. Ein Angebot wie aus einem Warenhauskatalog, der jederzeit abrufbar ist. Nur in seltenen Fällen entstehen diese Ereignisse am Ort der Vorstellung, zumeist wandern sie wie ehedem von Festival zu Festival durch eine wohlhabende Landschaft. Oftmals verzieren modische Ornamente die Anrufung des großen Zeitgeistes, die eine kurze Halbwertzeit auszählen. So sind halt die Moden, die zeitgenössische Abbilder vorspiegeln, aber meist lediglich Surrogate oder Placebos einer sich immer schneller drehenden Unterhaltungsindustrie sind.

Und häufig genug sind diese Art von Vorkommnissen schlüpfrige Bastarde der Performance-Künste, der Happenings der sechziger Jahre oder der gloriosen Fluxusjahre, wir erinnern uns zum Beispiel an den niederrheinischen Jagdflieger Joseph Beuys.

"Site Specific" - als Begriff so bescheuert wie "Fluid Room". Ganz alte Hüte!

Die Grenzen solchen Geschehens sind fließend, die Palette reicht vom Bass tönenden Humtata angesagter Tanzschuppen über Videogeflacker, spezifische Rauminstallationen; auf Neudeutsch heißt das site specific, ein ähnlich bescheuerter Terminus wie fluid room. Das sind ja ganz alte Hüte, mit neuen Bändern aufgeputzt! Auch gibt es beliebte Spektakel aller Art, treppauf und treppab, um Gegenwart in steinalte Gemäuer zu steppen. Doch die klugen Performance-Künstler und Installateure sind wie ausgestorben. Allein Marina Abramovic zieht noch die Blicke auf ihre Kunstaktion, sonst ist Ruhe im performativen Karton. Die unvergessliche Pina Bausch und Regisseure wie Klaus Michael Grüber, Frank Castorf und Claus Peymann, dessen „Iphigenie“ für immer in Erinnerung bleibt, haben diese Anregungen schon vor Langem aufgegriffen und verarbeitet.

Es bleiben also Ödnis und Langeweile in diesen Factories und komplexe Mischformationen und ihre Agenturbetriebe. Das tummelt sich, von EU-Förderrichtlinien knapp unterhalten, von Kulturpolitikern schlechten Gewissens schwach unterstützt, auf dem nämlichen Markt. Nichts Neues im Westen, doch viel alte, angejahrte Moderne.

Rentendebatten sind die Hekuba der Theaterintendanten

Nun sollen im immer aufgeregten Berlin, im immer aufgeregten Kulturgeschiebe, alte Posten neu besetzt werden. Das kommt ja vor, ist auch nicht schlimm, tut ein bisschen weh. Mit Grund. Man schaut, man fragt, man redet, man rät, man hört zu. Und hat dann zumeist am langen Ende nach mühsamer Prozedur Ideen, Profile, Namen. Das klappt manchmal, manchmal auch nicht.

Die verdienten Künstler Peymann und Castorf sollen nun ihre Plätze räumen im Berliner Ensemble und in der Volksbühne, beide sind unersetzbar, aber sei’s drum. Die Theaterleute sind freilich verbockte und verquere Arbeitnehmernaturen, sie wollen nie aufhören! Rentendebatten sind denen Hekuba. Die werden, etwas krank im Kopf und wollen immer mehr arbeiten. Sonntags gehört Papi mir, von wegen, er gehört der Tante Thalia, der schicken, launischen Muse! Sie wollten immer mehr, größere Partien, größere Rollen, größere Häuser mit größeren Etats!

Der eine hört mit 80 auf, der andere mit Mitte 60 und ich mit Mitte 70. Schade, ja, es ist ja auch zu schön. Kunst ist schön und macht auch viel Arbeit.

Jetzt soll die Volksbühne also auch auf dem Schlappseil des mageren Event-Marktes tanzen

Der große Claus hat schon einen Nachfolger, Oliver Reese aus Frankfurt am Main, vormals Deutsches Theater in Berlin. Und beim Kollegen Frank soll wohl irgendwie alles anders werden, der geniale Wüterich wird aufs Altenteil gebeten. Einer, der das bunte Allerlei der Eventkultur auf seine Fahnen geschrieben habe, hört man, soll einsteigen. Und die Verträge seien auch schon unterschrieben, raunen die Sbirren.

Die Volksbühne soll sich also nun auch auf dem mageren Markt umschauen, auf dem Schlappseil tanzen, wo schon das HAU akquiriert, die Berliner Festwochen, viele große und kleine Festivals, vielleicht sogar bald das reiche Preußenschloss, kaum zu glauben. Das Traditionshaus wurde ab 1969 zum führenden Theater in Ost-Berlin. Benno Besson hat die Volksbühne in trüben Theaterzeiten aus grauer Brecht’scher Langeweile erlöst. Mit kühnen und unbequemen Inszenierungen und einem couragierten Ensemble ist er gegen die faden Museumswächter und Modellbauer der Politbürobühne, dem Berliner Ensemble, sehr erfolgreich angetreten.

Frank Castorf ist diesen Weg Jahre später wieder gegangen. Mit Aufruhr und Ungestüm, mit Rücksichtslosigkeit und einer gehörigen Portion Zynismus wurde er zu einem großen Erneuerer und zum wichtigsten Antipoden eines schon ein wenig wehleidigen westdeutschen Literaturtheaters. Ich weiß, wovon ich rede, habe ich doch wie viele andere Westkünstler die Castorf’schen Chaos- und Videoshows anfangs nicht verstehen können. Das war eine folgenreiche und konsequente Arbeit, die Volksbühne gerierte sich als „Ost“-Bühne. Castorf kokettierte, wie so oft.

Extrem war das, radikal, stete Schufterei, keine biedermeierliche Beschaulichkeit auf einer selbstzufriedenen Insel, ein Sieg des Theaters über die Literatur. Seine Mitstreiter Johann Kresnik, Christoph Marthaler – wer denkt da nicht an „Murx den Europäer“ –, der geniale Tabubrecher Christoph Schlingensief, Herbert Fritsch – sie waren allesamt, wie auch Bert Neumann, Jonathan Meese und die mutigen Schauspieler, tollkühne Grenzüberschreiter. Sie wirbelten, mischten die ästhetischen Kategorien in verstörende Verwirrung. Welch ein unruhiger Pool kreativer Geister! Warum kann solch ein außerordentlicher Weg nicht fortgesetzt werden, wenn schon Castorf nicht bleiben soll – mit Querdenkern wie Nicolas Stemann, wie Fritsch, wie Leander Haußmann, wie David Bösch, wie Meese, und vielen anderen mehr?

Wäre Mathias Lilienthal nicht in der piekfeinen Maximilianstraße im piekfeinen München gelandet, wäre er hier der legitime Nachfolger gewesen, war er doch einer der Erfinder des Volksbühne-Labels der Castorf’schen Provenienz. Warum also in der Ferne schweifen? Und warum diese Tradition der Innovation, der Aufklärung und der atemlosen Experimente aufkündigen?

Die Berliner Kulturverwaltung sollte gut beraten sein, sich zu besinnen. Es steht doch einiges auf dem Spiel – das kulturelle Renommee unserer Stadt, also Obacht. Ein Ruf, der viel Arbeit und Mühe und Geduld und Arbeit und auch Geld gekostet hat. Varietés haben wir hier schon wahrlich genug, und gute. Aber vielleicht ist das alles ja auch ein ganz supercooles Missverständnis.

Jürgen Flimm, Jahrgang 1941, ist seit 2010 Intendant der Berliner Staatsoper. Davor leitete er die Ruhr-Triennale und war Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele. Große Erfolge feierte er als Regisseur und Intendant am Schauspiel Köln und am Thalia Theater Hamburg.

Jürgen Flimm

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