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Oskar Gröning steigt am 15. Juli 2015 in Lüneburg nach seinem Urteil in ein Auto ein.

© DPA

Jugendbuch über den Holocaust: Schuld ohne Sühne

Immer nur gehorcht: Oskar Gröning, der „Buchhalter von Auschwitz“, wurde 2015 wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Ein Jugendbuch schildert den Fall.

Ein junger Mann, der noch wie ein Kind aussieht. Kleine Nase, blasses Gesicht, große Augen hinter einer Nickelbrille. Der Kindmann steckt in einer Uniform, auf deren Kragen eine Doppelrune eingenäht ist, zwei blitzförmige Buchstaben: SS. Das Foto, das aus der SS-Personalakte von Oskar Gröning stammt, kursiert seit ein paar Jahren in den Medien. Es steht für die skandalös späte Aufarbeitung eines Verbrechens.

Der SS-Mann, der von 1942 bis 1944 im Vernichtungslager Auschwitz gearbeitet hatte, wurde mehr als 70 Jahre später, im Juli 2015 wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen vor dem Lüneburger Landgericht zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Er starb, nachdem der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht das Urteil bestätigt hatten, mit 96 Jahren, ohne die Haft angetreten zu haben.

Raub und Mord

Bekannt geworden ist Oskar Gröning als „Buchhalter von Auschwitz“, und so heißt auch das Buch, das der Sozialpädagoge Reiner Engelmann dem Fall widmet. Buchhalter, das klingt harmlos. Hinter dem Wort hat Gröning sich lange verschanzt. Der Bankkaufmann, der 1939 in die NSDAP und ein Jahr später in die SS eintrat, war in Auschwitz mit der „Gefangeneneigentumsverwaltung“ beschäftigt, einem Euphemismus für die Verwertung der Habseligkeiten, die von den SS-Tätern ihren meist jüdischen Opfern abgenommen wurden.

Weil Geld in vielen Währungen durch seine Hände lief, galt Gröning unter seinen Kameraden als „Dollarkönig“. Er war ein klassischer Schreibtischtäter, mitunter stand er allerdings auch an der berüchtigten Todesrampe, um auf die Koffer der Deportierten aufzupassen, die in Vieh- und Güterwagen aus allen Teilen des von Deutschen besetzten Europas eintrafen.

Nicht nur Schreibtischtäter

„Es ging alles ruhig vonstatten“, hat Gröning im Prozess erzählt. „Man kann sich ja vorstellen, was los ist, wenn 45 bis 50 Waggons mit jeweils achtzig Personen auf einmal kommen.“ Wenn „Ordnung“ geherrscht hätte, seien in 24 Stunden 5000 Leute „versorgt“ worden. Jemanden zu versorgen bedeutet eigentlich, ihm zu helfen. Gröning meinte das Gegenteil. Die Mordmaschinerie musste am Laufen gehalten werden, und dafür waren Männer wie er da. Der Angeklagte bekannte sich zwar floskelhaft zu seiner Verantwortung, betonte aber, ein Befehlsempfänger gewesen zu sein und nahm für sich die „Bequemlichkeit des Gehorsams“ in Anspruch. Er sah sich nicht als Mörder. Sondern bloß als Buchhalter.

Engelmann, der seit vielen Jahren Studienfahrten für Schulklassen nach Auschwitz organisiert, kontrastiert die Biografie des Täters mit der Geschichte eines Opfers. Éva Fahidi, die als Achtzehnjährige im Juli 1944 aus Ungarn nach Auschwitz verschleppt wurde, nahm als Nebenklägerin am Prozess gegen Gröning teil. Während ihre Mutter, und die kleine Schwester Gilike in die Gaskammer geschickt wurden, entschied sich Évas Schicksal in einem Fingerzeig des Lagerarztes Josef Mengele, der sie zur Gruppe derer beorderte, die als Sklavenarbeiter weiterleben durften. Während der zweimonatigen „Ungarn-Aktion“ kamen 425 000 Deportierte in Auschwitz an. 300 000 wurden sofort ermordet.

Holocaust als Lebensthema

Engelmanns Lebensthema ist der Holocaust. Vor drei Jahren veröffentlichte er ein Jugendbuch über Wilhelm Brasse, den „Fotografen von Auschwitz“, der von der SS gezwungen wurde, Aufnahmen von anderen, todgeweihten Gefangenen zu machen. Engelmann zitiert Elie Wiesel mit dem Satz „Wer einmal einen Zeitzeugen zuhört, wird selbst zum Zeitzeugen“ und bekennt: „Auschwitz lässt mich nicht los.“ Sein Buch über den ganz normalen Täter Oskar Gröning ist außergewöhnlich. Eine Erkenntnis daraus lautet, dass sich Vergangenheit nicht bewältigen lässt. Bewältigen müssen wir die Gegenwart.

Reiner Engelmann: Der Buchhalter von Auschwitz. Die Schuld des Oskar Gröning. cbj Jugendbücher, München 2018. 224 Seiten. 16 €. Ab 13 Jahren

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