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Jesper Wung-Sungs Roman "Opfer".

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Jugendroman "Opfer": Gefangen im Leben

Nichts sollte selbstverständlich sein: In Jesper Wung-Sungs Debattenroman „Opfer“ bricht auf einem Schulgelände plötzlich eine tödliche Epidemie aus.

Der Titel dieses Romans ist höchst unglücklich gewählt; vielleicht soll er auch eine gezielte Provokation sein: „Opfer“. Denn dieses Wort wird auf deutschen Schulhöfen bevorzugt als Schimpfwort verwandt („Du Opfer, du!“), und zwar, wie bei Schimpfwörtern üblich, außerhalb seines Bedeutungskontextes. Natürlich kann man sie von obenhin als Opfer bezeichnen, die Lehrer und Schüler einer dänischen Dorfschule, die in Jesper Wung-Sungs Roman quasi über Nacht zu Gefangenen werden, auf dem eigenen Schulgelände.

Es beginnt mit einem Lehrer, der an diesem heißen Sommertag plötzlich kollabiert und dem das Blut aus der Nase rinnt. Ein Krankenwagen bringt ihn weg; ein paar Stunden später kommen drei Männer in schwarzen Anzügen und bitten alle, das Schulgelände nicht zu verlassen. Was ja noch angeht. Dann aber folgen Bagger und Baufahrzeuge, ein Zaun wird errichtet, irgendwann nähert sich ein Hubschrauber aus der Luft und wirft eine Kiste mit Lebensmitteln ab – aber auch große grüne Planen, die sich als Leichensäcke herausstellen: „Beerdigt eure Toten“ steht auf einem Zettel an einem der Säcke. Das Szenario dieses Romans ist gespenstisch: Es scheint eine Epidemie zu geben, eine unerklärliche zumal, die niemand medizinisch bekämpft. Mit Toten wird gerechnet, mit vielen Toten, und einige sterben überdies bei Fluchtversuchen, die an dem unter Strom stehenden Zaun enden oder von einer über dem Schulgelände kreisenden Drohne vereitelt werden.

Wie viel ist ein Menschenleben wert?

„Wir haben uns eingebildet, dass es eine Gesellschaft gibt, eine Gemeinschaft, und jetzt zeigt sich, dass das alles in vierundzwanzig Stunden aufgelöst, aufgehoben und gestrichen werden kann. (...) Es gibt keine Nächstenliebe und Empathie! Es gibt nur Begierde und Egoismus! Und weil wir das nicht erkennen, geht es uns schlecht!“ Das sagt einer von den Schülern, als viele schon gestorben sind und die Rest-Schülerschaft sich in zwei rivalisierende Gruppen aufgeteilt hat. Die eine übt sich in Schicksalsakzeptanz, die andere begehrt auf, sucht nach Möglichkeiten, herauszukommen aus dem Gefängnis.

Wie viel Empathie zeigt sich in Extremsituationen? Wie verhalten sich Menschen überhaupt in solchen Situationen? Wie viel ist ein Menschenleben wert? Darum geht es dem 1971 geborenen dänischen Autor Jesper Wung-Sung in seiner literarischen Versuchsanordnung. So pessimistisch aber die Aussage des Schülers am Ende ist, so wenig gültig ist sie während der Apokalypse. Ein Großteil der Lehrer und Schüler macht nach anfänglichen Irritationen einfach weiter, „heroisch“, wie es heißt, was natürlich auch gruselig ist: Sie führen Unterrichtsstunden durch; sie akzeptieren die Epidemie, kümmern sich um die Kranken, sterben, begraben ihre Toten – und fragen nicht nach dem Warum des Ganzen. „Lasst uns hier raus!“, heißt es reißerisch auf dem Cover, doch diese Dringlichkeit spürt man im Roman über weite Strecken nicht.

Die Lehre aus der Parabel ist ernüchternd

Es gibt einen pubertierenden Helden, Benjamin, dessen Vater der Schulleiter ist. Um ihn herum hat Wung-Sung die unterschiedlichsten Figuren platziert, wie es sie auf einer dänischen Dorfschule genauso gibt wie überall auf der Welt: vom kleinen Simon, der schon immer anders war als die anderen und den Schutz Benjamins genießt, über die schöne Maja und die besonnene Kate bis hin zum Rüpel der Schule, Liam. Doch kaum jemand ist sich selbst der Nächste, von einer plötzlichen Anarchie kann keine Rede sein. Schließlich, ohne dass das verbalisiert wird, stellt sich die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz, nach ihren Grundfesten.

Die Antwort bleibt aus. Was „Opfer“ nicht von ungefähr in die Nähe von Janne Tellers umstrittenen, ebenfalls in der dänischen Provinz angesiedelten und die Sinnfrage stellenden Jugendroman „Nichts“ rückt. Aber auch die eigene Sinnhaftigkeit infrage stellt: Wozu das Ganze?

Vielleicht weil Wung-Sungs Prosa dicht und klar ist und sein Roman einen gewissen Spannungsfaden hat. Die Lehre aus dieser Parabel aber ist ernüchternd – und der Titel bleibt ärgerlich-irritierend: Wenn Jesper Wung-Sung die ganze Gesellschaft im Visier hat, die Menschheit in ihrer Gesamtheit, lässt sich zwischen Täter und Opfer nur schwer unterscheiden.

Jesper Wung-Sung: Opfer. Roman. Aus dem Dänischen von Friederike Buchinger. Hanser Verlag, München 2016. Ab 14 J., 142 S., 13,90 €

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