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Kultur: Jung mal alt

KLASSIK

Die Lebenszyklen des Erwerbslebens schienen bislang für Dirigenten nicht zu gelten: Während der Rest der Bevölkerung mit 65 in Rente geht, beweisen viele Taktstockarbeiter, dass der Zenith von Kreativität und Leistung auch jenseits dieses Stichtags liegen kann. Doch seit einiger Zeit ist diese wunderbare Welt, in der man bis 50 noch als jung gilt, von echten Youngstern bedroht. Kecke Twens wollen zeigen, dass man für Sinfonie und Oper keine über Jahrzehnte gewachsene Erfahrung braucht – und schon im Studentenalter ein Spitzenorchester wie die Berliner Philharmoniker beherrschen kann.

Zuerst kam der Brite Daniel Harding, jetzt rückt der kaum 23-jährige Mikko Franck nach. Wie alle finnischen Dirigenten mit praxisorientierter Ausbildung besitzt Franck eine sichere Technik und zudem die unerschütterliche Ruhe eines Routiniers. Schostakowitschs „Leningrader“ Sinfonie dirigiert er, als könne nichts passieren. Weder ihm noch der Musik. Keine Spur von Verzweiflung und Sarkasmus angesichts der Belagerung Leningrads, die da in 75 apokalyptischen Minuten verarbeitet ist. Stattdessen blanke Selbstzufriedenheit: Franck genießt den satten Streicherklang der Philharmoniker, freut sich, wenn das Blech phonstark schmettert – selten klang dieses Bekenntniswerk so harmlos und oberflächlich bombastisch. Dass Frank zuvor die Begleitung von Ravels Klavierkonzert für die Linke Hand nicht in den Griff bekommt und den Solisten Jean-Yves Thibaudet nachhaltig verunsichert, vervollständigt das Bild. Aber Franck hat ja noch Zeit. Mindestens bis 65.

Jörg Königsdorf

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