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Der russische Dirigent Kirill Petrenko ist bei den Berliner Philharmonikern der Nachfolger von Sir Simon Rattle.

© picture-alliance / dpa

Junge Klassik: Das lässt sich hören

Eine neue Dirigenten-Generation übernimmt bei den Top-Orchestern. Sie werden die Musikwelt revolutionieren - mit jeder Aufführung. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Frederik Hanssen

So jung wie jetzt wirkte die klassische Musik lange nicht mehr. Eine neue Generation von Dirigenten übernimmt gerade die Taktstöcke bei den Top-Orchestern. Die Berliner Philharmoniker haben sich für den 43-jährigen Kirill Petrenko als Nachfolger Simon Rattles entschieden, die Bamberger Symphoniker werden ab Sommer 2016 vom 34-jährigen Jakub Hrusa geleitet. Beim Tonhalleorchester Zürich übernimmt Lionel Bringuier, 28, den Chefposten, Robin Ticciati, 32, ist Music Director des südenglischen Glyndebourne Festivals. Gustavo Dudamel, 34, steht an der Spitze des Los Angeles Philharmonic, und in Leipzig wurde jetzt Andris Nelsons als künftiger Gewandhauskapellmeister vorgestellt. Der 36-jährige, weltweit gefragte Lette war auch bei den Berliner Philharmonikern einer der heißesten Kandidaten.

In Leipzig will man eine transatlantische Musikbrücke schlagen

Aus der Not, sich Nelsons mit einem zweiten Orchester teilen zu müssen, dem bedeutenden in Boston, hat man in Leipzig kurzerhand eine Tugend gemacht: Ganz der neuen Zeit gemäß will man sich mit den Amerikanern vernetzen, will eine transatlantische Musikbrücke schlagen, indem gemeinsam Kompositionsaufträge vergeben werden. Die Orchester werden sich gegenseitig besuchen und regelmäßig Werke aufführen, für deren Interpretation der jeweils andere Klangkörper berühmt ist. Eine Innovation! Was können die spektakulären Stabwechsel sonst noch bringen? Werden die jungen Maestri die Musikwelt revolutionieren?

Ja. Aber mit jeder Aufführung. Soll keiner erwarten, dass sie die Rituale des Konzertbetriebs, die Hochkulturskeptikern als Hemmschwellen erscheinen, einebnen. Klassik ist nun einmal Manufaktum für die Ohren. Die Orchester werden also weiterhin in Fräcken spielen, weil die einheitlich schwarze Kleidung es möglich macht, sie nicht als Einzelspieler, sondern als Gemeinschaft wahrzunehmen, als Klangkörper. Was wiederum die Konzentration der leicht durch alles Optisch abzulenkenden Zuhörer auf das Wesentliche fördert, die Musik. Darum werden Auftritte in spektakulären Locations auch künftig die Ausnahme sein; darum werden die Orchester weiter lieber in Sälen spielen, deren Akustik ideale Klangbedingungen bietet. Die Werke sind in den allermeisten Fällen bekannt, da geht es in der Klassik immer um Nuancen. Beim Tempo, bei der Lautstärke, bei der Atmosphäre. Und doch wird sich die Wahrnehmung verändern. Die Interpreten gehen mit der Zeit.

Jeder Interpret entdeckt die Partituren für sich neu

Wer Pop und Rock, Rap, Hiphop oder Techno zum Soundtrack seines Lebens gemacht hat, versteht selten, warum die Klassik-Fans ständig dieselben Stücke hören wollen. Das liegt an den unterschiedlichen Regeln der Reproduktion: Die Hits der 70er, 80er und das Beste von heute sollen bei jedem Abspielen möglichst identisch klingen, selbst live, bei den Best-of-Auftritten der Altstars. Auch Dauerbrenner-Musicals funktionieren nach diesem Prinzip. Was die Begegnung mit Mozart, Beethoven und Co. so spannend macht, ist dagegen die Trennung von Werk und Aufführendem. Jeder Interpret entdeckt die Partituren für sich persönlich neu, bei jeder Aufführung.

Manche Revolution kündigt sich still an

Aber darum geht es: um das Vergnügen, aus dem Alltag heraustreten zu können. Einem Alltag, der sich doch täglich verändert. Den jungen Maestri muss es da von Neuem gelingen, ein Kraftwerk der Gefühle in Gang zu setzen – mit Neuem. Manche Revolution kündigt sich still an. Diese hier geht von Leipzig aus. Wie schön, genau im 25. Jahr der Einheit! Und wir werden noch viel davon hören.

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